Washington Square
deinen Phantasien, deinen Neigungen, deinen Verblendungen; aber ich möchte dich darum ersuchen, daß du diese Dinge für dich behältst. Ich habe Catherine meine Ansichten auseinandergesetzt. Sie versteht sie vollkommen, und alles, was sie weiterhin unternimmt, um Mr. Townsends Beachtung zu begünstigen, steht in bewußtem Gegensatz zu meinen Wünschen. Alles, was du tun würdest, um ihr Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, wäre – gestatte mir den Ausdruck – entschieden verräterisch. Du weißt, Hochverrat |151| ist ein Kapitalverbrechen: nimm dich in acht, daß du nicht die Strafe auf dich lädtst.«
Mrs. Penniman warf den Kopf zurück und sah ihn in einer gewissen Art mit großen Augen an, die sie gelegentlich anwandte. »Ich habe den Eindruck, du sprichst wie ein großer Autokrat.«
»Ich spreche wie der Vater meiner Tochter.«
»Nicht wie der Bruder deiner Schwester«, rief Lavinia.
»Meine liebe Lavinia«, sagte der Doktor, »manchmal frage ich mich, ob ich tatsächlich dein Bruder bin, so ungeheuer verschieden sind wir. Trotz dieser Verschiedenheiten können wir einander jedoch zur Not verstehen; und das ist jetzt die Hauptsache. Geh’, was Mr. Townsend betrifft, den geraden Weg. Das ist alles, was ich verlange. Höchstwahrscheinlich hast du in den letzten drei Wochen mit ihm korrespondiert – ihn vielleicht sogar getroffen. Ich frage dich nicht danach, du brauchst mir nichts zu sagen.« Er hatte die grundsätzliche Überzeugung, sie würde darauf verfallen, ihm bezüglich dieser Angelegenheit etwas vorzuflunkern, was ihm das Zuhören verleiden würde. »Was du auch getan hast, hör’ auf damit. Das ist alles, was ich wünsche.«
»Wünschst du zufällig auch, dein Kind umzubringen?« fragte Mrs. Penniman.
»Im Gegenteil, ich wünsche, daß es am Leben bleibt und glücklich wird.«
»Du wirst sie umbringen: sie hat eine entsetzliche Nacht verbracht.«
»Sie stirbt nicht an einer entsetzlichen Nacht, und auch nicht an einem Dutzend solcher Nächte. Bedenke, daß ich ein renommierter Arzt bin.«
Mrs. Penniman zögerte einen Moment; dann wagte sie, es ihm heimzuzahlen.
|152| »Daß du ein renommierter Arzt bist, hat nicht verhindern können, bereits
zwei Angehörige
deiner Familie zu verlieren.«
Sie war das Wagnis eingegangen, aber ihr Bruder warf ihr einen derart furchtbar schneidenden Blick zu – einen Blick wie das Skalpell eines Chirurgen –, daß sie vor ihrem Wagemut erschrak. Und er entgegnete ihr mit Worten, die diesem Blick entsprachen: »Es könnte mich auch nicht daran hindern, die Gesellschaft eines weiteren Angehörigen zu verlieren.«
Mrs. Penniman empfahl sich mit der ausgeprägtesten Miene verkannten Verdienstes, die ihr zur Verfügung stand, und begab sich in Catherines Zimmer, wohin sich das arme Mädchen zurückgezogen hatte. Die Tante wußte alles von ihrer entsetzlichen Nacht, da sich die beiden am Abend zuvor getroffen hatten, nachdem Catherine von ihrem Vater gekommen war. Mrs. Penniman stand auf dem Flur des zweiten Stockwerks, als ihre Nichte heraufkam. Es war nicht verwunderlich, daß eine Person von solchem Scharfsinn herausgefunden hatte, Catherine habe hinter verschlossener Tür mit dem Doktor gesprochen. Noch weniger verwunderlich war es, daß sie ungeheure Neugierde verspürte, das Ergebnis dieser Unterredung zu erfahren, und daß diese Empfindung, verbunden mit ihrer ausgeprägten Gutherzigkeit und ihrem Edelmut, sie veranlassen mußte, die unlängst zwischen ihr und ihrer Nichte gewechselten scharfen Worte zu bedauern. Als das unglückliche Mädchen auf dem dämmerigen Flur in Sicht kam, schickte sie sich zu einer lebhaften Sympathiekundgebung an. Catherines schier gebrochenes Herz war sich dieser Worte ebenfalls nicht mehr bewußt; das Mädchen nahm lediglich wahr, daß seine Tante es in die Arme nahm. Mrs. Penniman zog |153| es mit sich in Catherines Zimmer, und dort saßen die zwei Frauen bis weit in die frühen Morgenstunden beieinander, die jüngere mit dem Kopf auf dem Schoß der andern schluchzend, zunächst lautlos, unterdrückt und dann schließlich völlig stillschweigend. Es erfüllte Mrs. Penniman mit Genugtuung, daß sie überzeugt sein konnte, diese Szene machte letztlich rückgängig, daß Catherine ihr untersagt hatte, weiterhin Verbindung zu Morris Townsend zu pflegen. Keine Genugtuung empfand sie indes, als sie vor dem Frühstück bei ihrer Rückkehr ins Zimmer ihrer Nichte feststellte, daß Catherine aufgestanden war und sich zu
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