Washington Square
ihr Augenmerk war unbeirrbar auf ihren furchtbaren Plan gerichtet. Sie wußte, daß ihr Vater in seinem Arbeitszimmer war – daß er bereits den ganzen Abend dort gewesen war; hin und wieder erwartete sie, seine Schritte zu hören. Sie dachte, er würde vielleicht in den Salon kommen, wie er das manchmal tat. Schließlich schlug die Uhr elf, und das Haus war völlig in Stille gehüllt; die Dienstboten hatten sich zu Bett begeben. Catherine erhob sich und ging langsam zur Bibliothek, wo sie einen Augenblick regungslos wartete. Dann klopfte sie und wartete daraufhin wieder. Ihr Vater hatte ihr geantwortet, aber sie brachte nicht den Mut auf, die |142| Türklinke niederzudrücken. Was sie zu ihrer Tante gesagt hatte, war nur allzu wahr – sie hatte Angst vor ihm; und wenn sie sagte, sie habe keine Empfindung von Schwäche, so meinte sie damit, sie fürchte sich nicht vor sich selbst. Sie hörte drinnen seine Schritte, und er kam und öffnete ihr die Tür.
»Was gibt’s denn?« fragte der Doktor. »Du stehst ja da wie ein Gespenst!«
Sie trat ins Zimmer, doch es verstrich einige Zeit, ehe sie es über sich brachte, das zu sagen, um dessentwillen sie gekommen war. Ihr Vater, in Schlafrock und Pantoffeln, war an seinem Schreibtisch beschäftigt gewesen, und nachdem er sie eine geraume Weile angesehen und darauf gewartet hatte, daß sie etwas sage, setzte er sich wieder zu seinen Papieren. Sein Rücken war ihr zugekehrt – nun vernahm sie das Kritzeln seiner Feder. Sie blieb bei der Tür stehen, und das Herz pochte ihr heftig unter dem Mieder; sie war sehr froh, daß er ihr den Rücken zuwandte, da es ihr schien, sie könne sich leichter an diese Partie seiner Gestalt wenden als an sein Gesicht. Endlich begann sie, und während sie sprach, beobachtete sie ihn.
»Du hast gesagt, wenn ich noch etwas über Mr. Townsend mitzuteilen hätte, würdest du es sehr gern erfahren.«
»So ist es, meine Liebe«, sagte der Doktor, der sich nicht umwandte, aber die Feder anhielt.
Catherine hätte gewünscht, sie würde weiterkritzeln, fuhr aber fort: »Ich wollte dir sagen, daß ich ihn nicht wiedergesehen habe, daß ich es aber gern tun würde.«
»Um ihm Lebewohl zu sagen?« fragte der Doktor.
Das Mädchen zögerte einen Augenblick. »Er hat nicht die Absicht zu verreisen.«
|143| Der Doktor drehte sich langsam auf seinem Stuhl um, mit einem Lächeln, das sie eines Epigramms zu bezichtigen schien; aber Extreme begegnen sich, und Catherine hatte keines beabsichtigt. »Dann also nicht, um ihm Lebewohl zu sagen?« fragte ihr Vater.
»Nein, Vater, das nicht; zumindest nicht für immer. Ich habe ihn nicht wieder getroffen«, wiederholte Catherine.
Der Doktor strich sich mit dem Gefieder seiner Schreibfeder langsam über die Unterlippe.
»Hast du ihm geschrieben?«
»Ja, viermal.«
»Du hast ihn also nicht abgewiesen. Mit einem Mal wäre das getan gewesen.«
»Nein«, sagte Catherine, »ich habe ihn gebeten – ihn gebeten zu warten.«
Ihr Vater saß da, den Blick auf sie gerichtet, und sie befürchtete, er werde in Zorn ausbrechen, so scharf und kalt waren seine Augen.
»Du bist ein liebes, aufrichtiges Kind«, sagte er schließlich. »Komm’ her zu deinem Vater.« Und er stand auf und streckte ihr die Hände entgegen.
Diese Worte waren überraschend für sie und bereiteten ihr Freude. Sie ging auf ihn zu, und er legte liebevoll, besänftigend seinen Arm um sie und küßte sie dann. Danach sagte er: »Willst du mich ganz glücklich machen?«
»Ich möchte es gern – aber ich fürchte, ich kann es nicht«, antwortete Catherine.
»Du kannst es, wenn du willst. Es hängt ganz von deinem Willen ab.«
»Geht es darum, ihn aufzugeben?« fragte Catherine.
»Ja, es geht darum, ihn aufzugeben.«
|144| Und er hielt sie weiterhin in seinem Arm, ebenso liebevoll, sah ihr ins Gesicht und ließ seinen Blick auf ihren abgewandten Augen ruhen. Lange Zeit herrschte Schweigen; sie wünschte, er möge sie loslassen.
»Du bist glücklicher als ich, Vater«, sagte sie schließlich.
»Ich bezweifle nicht, daß du gerade jetzt unglücklich bist. Aber es ist besser, drei Monate lang unglücklich zu sein und darüber hinwegzukommen, als viele Jahre und nie darüber hinwegzukommen.«
»Ja, wenn es so wäre«, sagte Catherine.
»Es wäre so; dessen bin ich sicher.« Sie erwiderte nichts, und er fuhr fort: »Hast du kein Vertrauen in meine Weisheit, in meine Liebe, in meine Sorge um deine Zukunft?«
»O Vater!« sagte das Mädchen
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