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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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leise.
    »Glaubst du nicht, daß ich etwas von Männern verstehe – von ihren Lastern, ihren Torheiten, ihrer Falschheit?«
    Sie machte sich los und wandte sich ihm zu. »Er ist nicht lasterhaft – er ist nicht falsch!«
    Ihr Vater sah sie ständig mit seinem scharfen, klaren Blick an. »Du machst dir also nichts aus meinem Urteil?«
    »Ich kann es nicht glauben!«
    »Ich habe dich nicht gefragt, ob du es glaubst, sondern ob du darauf vertraust.«
    Catherine war weit davon entfernt, sich zu sagen, dies sei eine scharfsinnige Spitzfindigkeit; doch sie trat nichtsdestoweniger dieser Herausforderung offen entgegen. »Was hat er denn getan – was weißt du?«
    »Er hat nie etwas getan – er ist ein selbstsüchtiger Nichtstuer.«
    |145| »O Vater, mach’ ihn nicht schlecht!« rief sie bittend.
    »Ich denke gar nicht daran, ihn schlecht zu machen; das wäre ein gewaltiger Fehler. Du kannst tun, was du willst«, setzte er hinzu und wandte sich ab.
    »Ich darf ihn wiedersehen?«
    »Ganz wie du willst.«
    »Wirst du mir verzeihen?«
    »Keineswegs.«
    »Es ist nur für ein Mal.«
    »Ich weiß nicht, was du mit ›ein Mal‹ meinst. Du mußt ihn entweder aufgeben oder die Bekanntschaft fortsetzen.«
    »Ich möchte ihm erklären – ihm sagen, er solle warten.«
    »Worauf warten?«
    »Bis du ihn besser kennst – bis du zustimmst.«
    »Sag’ ihm doch keinen solchen Unsinn. Ich kenne ihn hinreichend gut und werde niemals zustimmen.«
    »Aber wir können ja lange warten«, sagte die arme Catherine in einem Ton, der die unterwürfigste Bereitschaft zur Einigung ausdrücken sollte, auf die Nerven ihres Vaters aber die Wirkung einer Wiederholung hatte, die sich nicht gerade durch Fingerspitzengefühl auszeichnete.
    Der Doktor antwortete indes ziemlich ruhig: »Selbstverständlich; ihr könnt warten, bis ich sterbe, wenn ihr wollt.«
    Catherine stieß einen Schrei unwillkürlichen Entsetzens aus.
    »Euer Verlöbnis hat ja eine reizende Auswirkung auf dich; es wird dich höchst ungeduldig auf jene Begebenheit machen.«
    Catherine stand da und starrte ihn an, und der Doktor |146| genoß seine Pointe. Sie traf Catherine mit der Gewalt – oder vielleicht mit der unbestimmten Eindruckskraft – eines logischen Axioms, das zu bestreiten sie nicht die Voraussetzungen hatte; und obgleich es sich um eine wissenschaftlich erwiesene Wahrheit handelte, fühlte sie sich doch unfähig, sie anzuerkennen.
    »Ich würde lieber nicht heiraten, wenn das wahr wäre«, sagte sie.
    »Dann liefere mir einen Beweis dafür; denn es steht außer Frage, daß du aufgrund deiner Verlobung mit Morris Townsend geradezu auf meinen Tod wartest.«
    Sie wandte sich mit einem Gefühl des Unwohlseins und der Mattigkeit ab; doch der Doktor fuhr fort: »Und wenn du voll Ungeduld darauf wartest, dann kannst du wohl beurteilen, wie
er
erst darauf lauert.«
    Catherine dachte darüber nach – die Worte ihres Vaters hatten für sie solche Autorität, daß selbst ihre Gedanken in der Lage waren, ihm zu gehorchen. Es lag etwas schrecklich Widerwärtiges darin, das sie durch das dazwischenliegende Medium ihres eigenen schwächeren Verstandes anzustarren schien. Doch auf einmal kam ihr eine Eingebung – sie hatte jedenfalls fast den Eindruck, es sei eine Eingebung.
    »Wenn ich nicht vor deinem Tod heirate, werde ich es auch nicht nachher tun«, sagte sie.
    Ihrem Vater erschien dies, wie zugegeben werden muß, lediglich als ein weiteres Epigramm; und da Widerspenstigkeit sich bei ungebildeten Geistern gewöhnlich nicht einer solchen Ausdrucksweise bedient, war er um so mehr überrascht über dieses mutwillige Spiel einer fixen Idee.
    »Meinst du das als Ungehörigkeit?« fragte er; eine Frage, deren Grobheit er, als er sie tat, sehr wohl spürte.
    |147| »Eine Ungehörigkeit? O Vater, welch schreckliche Sachen du sagst!«
    »Wenn du nicht auf meinen Tod wartest, kannst du ebensogut gleich heiraten; auf etwas anderes gibt es nicht zu warten.«
    Eine Zeitlang gab Catherine keine Antwort; doch schließlich sagte sie: »Ich glaube, Morris könnte dich – nach und nach – überzeugen.«
    »Ich lasse mich niemals wieder von ihm sprechen. Meine Abneigung gegen ihn ist zu groß.«
    Catherine stieß einen langen, tiefen Seufzer aus; sie versuchte, ihn zu unterdrücken, denn sie war sich darüber klargeworden, daß es falsch wäre, aus ihrem Kummer eine große Sache zu machen und sich zu bemühen, mit Hilfe übertriebener Gefühlsausbrüche auf ihren Vater einzuwirken. Tatsächlich

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