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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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dieser Mahlzeit zurechtmachte.
    »Du solltest nicht zum Frühstück kommen«, sagte sie. »Es geht dir nicht gut genug nach dieser entsetzlichen Nacht.«
    »Doch, es geht mir sehr gut, und ich fürchte nur, daß ich zu spät komme.«
    »Ich kann dich nicht verstehen«, rief Mrs. Penniman. »Du solltest drei Tage im Bett bleiben.«
    »Oh, das könnte ich niemals«, sagte Catherine, die dieser Vorstellung keinen Reiz abgewinnen konnte.
    Mrs. Penniman war verzweifelt; und zu ihrem größten Verdruß bemerkte sie, daß die Spuren der nächtlichen Tränen völlig aus Catherines Augen verschwunden waren. Das Mädchen hatte eine höchst widerstandsfähige Konstitution. »Was glaubst du wohl, wie du auf deinen Vater wirkst«, sagte seine Tante herausfordernd, »wenn du heruntergestapft kommst ohne die geringste Spur irgendeiner Gefühlsbewegung, so als wäre nichts auf der Welt passiert?«
    »Er hätte es nicht gern, wenn ich im Bett liegenbliebe«, sagte Catherine lediglich.
    |154| »Um so mehr Grund, daß du es tust. Wie willst du ihn denn sonst zu einer Gefühlsregung bewegen?«
    Catherine dachte ein wenig nach. »Ich weiß nicht, wie; aber nicht auf diese Art. Ich möchte genauso wie sonst sein.« Und sie zog sich fertig an und kam – entsprechend dem Ausdruck der Tante – heruntergestapft in den väterlichen Dunstkreis. Sie war tatsächlich allzu zurückhaltend für beständiges Pathos.
    Und doch entsprach es völlig der Wahrheit, daß sie eine entsetzliche Nacht gehabt hatte. Selbst nachdem Mrs. Penniman sie verlassen hatte, fand sie keinen Schlaf; sie lag da, starrte in das trostlose Dunkel und hatte noch die Bewegung vor Augen, mit der ihr Vater sie aus dem Zimmer gewiesen hatte, und in ihren Ohren klangen noch seine Worte nach, sie sei eine herzlose Tochter. Ihr Herz war schier gebrochen; dafür hatte sie Herz genug. Hin und wieder hatte sie den Eindruck, daß sie ihm Glauben schenkte und daß ein Mädchen tatsächlich schlecht sein müsse, wenn es so wie sie handelte. Sie
war
schlecht, aber sie konnte dem nicht abhelfen. Sie wollte versuchen, gut zu erscheinen, auch wenn ihr Herz verdorben war; und von Zeit zu Zeit kam ihr der Gedanke, sie könnte etwas ausrichten durch geschickte Zugeständnisse an die Form, auch wenn sie nicht von Morris lassen würde. Catherines Einfälle waren verschwommen, und es ist nicht unsere Aufgabe, deren Verkehrtheit zu entlarven. Die besten von ihnen gewannen vielleicht in ihrem frischen Aussehen Gestalt, durch das Mrs. Penniman so entmutigt wurde, war sie doch verblüfft darüber, wie einer jungen Frau nichts von Übernächtigung anzumerken war, nachdem sie eine ganze Nacht lang bebend unter den Verwünschungen ihres Vaters dagelegen hatte. Die arme Catherine war sich ihres frischen Aussehens |155| bewußt; es gab ihr im Hinblick auf ihre Zukunft ein Gefühl, das nicht wenig zu dem Druck beitrug, der ihr auf der Seele lag. Es schien ein Beweis dafür zu sein, daß sie stark und unempfindlich war und ein belastbar hohes Alter erreichen würde – ein höheres als im allgemeinen genehm sein mochte. Und dieser Gedanke war bedrückend, da er sie mit einem weiteren Anspruch zu belasten schien, gerade wenn die Erfüllung eines Anspruchs mit ihrem richtigen Handeln unvereinbar war. Noch am selben Tag schrieb sie Morris Townsend und bat ihn, sie bald aufzusuchen, wobei sie sich auf ganz wenige Worte beschränkte und nichts erklärte. Sie wollte ihm alles Auge in Auge erklären.

|156| 20. KAPITEL
    Am folgenden Tag hörte sie nachmittags seine Stimme an der Tür und seinen Schritt in der Eingangshalle. Sie empfing ihn im großen, hellen vorderen Salon und gab dem Bedienten die Weisung, falls jemand nach ihr verlange, sei sie unter keinen Umständen zu sprechen. Sie befürchtete nicht, daß ihr Vater hereinkäme, da er um diese Zeit stets in der Stadt unterwegs war. Als Morris vor ihr stand, war das erste, was ihr zum Bewußtsein kam, daß er noch schöner anzusehen war, als ihre zärtliche Erinnerung ihn sich ausgemalt hatte; das nächste war, daß er sie in seine Arme schloß. Als sie wieder frei war, schien es ihr, daß sie sich nun tatsächlich in den Strudel der Herausforderung gestürzt habe, und für einen Augenblick sogar, daß sie sich mit ihm vermählt habe.
    Er sagte ihr, sie sei sehr grausam gewesen und habe ihn sehr unglücklich gemacht; und Catherine fühlte schmerzlich die Schwierigkeit ihres Verhängnisses, das sie zwang, so entgegengesetzten Personenkreisen Kummer zu

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