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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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einen festen und breiten Sitz hatte. Aber ihr Vater hatte das erwartet und sah sich nicht gezwungen, ihre geistige Beschränkung als Touristin einer gedrückten Stimmung zuzuschreiben; sie hatte die Merkmale eines Opfers völlig abgelegt, und während der ganzen Zeit ihres Auslandsaufenthaltes ließ sie nie einen Seufzer vernehmen.
    |186| Er nahm an, daß sie mit Morris Townsend in Briefwechsel stand, doch er äußerte sich nicht dazu, da er niemals Briefe des jungen Mannes zu Gesicht bekam, und Catherines eigene Botschaften wurden stets per Boten zur Post gebracht. Sie hörte von ihrem Liebhaber mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit, aber seine Briefe erreichten sie in Mrs. Pennimans Schreiben eingeschlossen, so daß der Doktor jedesmal, wenn er seiner Tochter eine von der Hand seiner Schwester adressierte Sendung aushändigte, ein unfreiwilliges Werkzeug gerade derjenigen Leidenschaft war, die er verurteilte. Catherine kam auf diesen Gedanken, und noch sechs Monate früher hätte sie sich verpflichtet gefühlt, ihn darauf hinzuweisen; jetzt aber glaubte sie, davon entbunden zu sein. In ihrem Herzen gab es einen wunden Punkt, den seine Worte hervorgerufen hatten, als sie einmal so zu ihm sprach, wie es ihrer Meinung nach die Ehre erforderte; sie wollte versuchen, ihn, soweit sie konnte, zufriedenzustellen, aber nie wieder würde sie in dieser Art mit ihm sprechen. Die Briefe ihres Liebhabers las sie im geheimen.
    Eines Tages, gegen Ende des Sommers, waren die beiden Reisenden in ein einsames Alpental gelangt. Sie überquerten gerade einen Paß, und bei der langen Steigung waren sie aus dem Wagen gestiegen und ein gutes Stück vorausgewandert. Nach einer Weile erspähte der Doktor einen Fußweg, der durch ein Quertal führte und sie, wie er ganz richtig annahm, zu einem weit höher gelegenen Punkt der Steigung bringen würde. Sie folgten diesem Seitenpfad und verliefen sich schließlich; das Tal erwies sich als reichlich wild und rauh, und aus ihrer Wanderung wurde eher eine Kletterei. Sie waren indes tüchtige Wanderer und nahmen ihr Abenteuer nicht |187| schwer; von Zeit zu Zeit hielten sie an, damit Catherine Rast machen konnte; dann saß sie auf einem Stein und blickte umher nach den schroffen Felsen und dem leuchtenden Himmel. Es war Spätnachmittag, Ende August; die Dunkelheit rückte näher, und da sie eine beträchtliche Höhe erreicht hatten, war die Luft kalt und schneidend. Im Westen war der Himmel von kaltem, rotem Licht überflutet, wodurch die Hänge des kleinen Tals nur noch rauher und düsterer erschienen. Während einer ihrer Ruhepausen verließ sie ihr Vater und stieg zu einer etwas entfernten Anhöhe hinauf, um einen Überblick zu bekommen. Er war außer Sicht; sie saß allein da in der Stille, in die gerade noch das verworrene Murmeln eines Bergbachs von irgendwoher drang. Sie dachte an Morris Townsend, und der Ort war so einsam und verlassen, daß er ihr sehr fern schien. Ihr Vater blieb lange Zeit fort; sie begann sich zu fragen, was mit ihm los sei. Aber endlich erschien er wieder, kam im noch hellen Zwielicht auf sie zu, und sie erhob sich, um aufzubrechen. Doch er machte keine Miene weiterzugehen, sondern kam nahe zu ihr heran, als habe er etwas zu sagen. Er blieb vor ihr stehen und sah sie an mit Augen, in denen noch das Licht der Schneegipfel im Alpenglühen war, auf die sie eben geheftet waren. Dann richtete er ganz unvermittelt mit gedämpfter Stimme eine unerwartete Frage an sie: »Hast du ihn aufgegeben?«
    Die Frage kam unerwartet, doch Catherine war nur nach außen hin unvorbereitet.
    »Nein, Vater«, antwortete sie.
    Er sah sie erneut einige Augenblicke an ohne zu sprechen.
    »Schreibt er dir?« fragte er.
    »Ja, so zweimal im Monat.«
    |188| Der Doktor blickte talauf und talab und schwang dabei seinen Stock; dann sagte er im selben gedämpften Ton: »Ich bin sehr ungehalten.«
    Sie fragte sich, was er wohl damit meine – ob er ihr Angst einjagen wolle. Falls das zutraf, war die Stelle gut gewählt: diese steile, düstere Schlucht, in die kein Sommerlicht drang, ließ sie ihre Verlassenheit empfinden. Sie blickte umher, und es wurde ihr kalt ums Herz; einen Augenblick überkam sie große Furcht. Doch sie wußte nicht, was sie sagen sollte, außer leise zu murmeln: »Es tut mir leid.«
    »Du stellst meine Geduld auf eine harte Probe«, fuhr ihr Vater fort, »und du solltest mich kennen. Ich bin nicht gerade ein sehr wohlwollender Mensch. Wenn ich auch nach außen hin sehr ruhig wirke,

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