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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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so bin ich doch im Grunde sehr leidenschaftlich; und ich versichere dir, ich kann sehr hart sein.«
    Sie konnte sich nicht denken, warum er ihr all das sagte. Hatte er sie absichtlich hierhergebracht, und war dies Bestandteil eines Planes? Was für ein Plan war das? fragte sich Catherine. Sollte sie unversehens eingeschüchtert werden, um zu widerrufen – sollte sie durch Furcht überrumpelt werden? Furcht wovor? Die Gegend war bedrohlich und einsam, doch die Gegend konnte ihr nichts antun. Um ihren Vater war eine Art regloser Kraft, die ihn gefährlich machte, aber Catherine ging schwerlich so weit, sich zu sagen, daß es ein Teil seines Plans sein könnte, seine Hand – die gut geformte, feine, geschmeidige Hand eines vorzüglichen Arztes – um ihre Kehle zu schließen. Nichtsdestotrotz wich sie einen Schritt zurück. »Ich bin mir sicher, daß du alles sein kannst, was du willst«, sagte sie, und das war ihre ehrliche Überzeugung.
    |189| »Ich bin sehr ungehalten«, entgegnete er noch schärfer.
    »Warum hat es dich so plötzlich gepackt?«
    »Es hat mich nicht plötzlich gepackt. Ich koche schon seit sechs Monaten innerlich. Aber dies schien jetzt eben der rechte Ort zu sein, um es herauszulassen. Es ist so ruhig, und wir sind allein.«
    »Ja, es ist sehr ruhig«, sagte Catherine und blickte unbestimmt um sich. »Willst du nicht mit zum Wagen zurückkommen?«
    »Gleich. Willst du damit sagen, daß du in all der Zeit keinen Fußbreit nachgegeben hast?«
    »Ich würde es, wenn ich könnte, Vater; aber ich kann es nicht.«
    Der Doktor blickte gleichfalls umher. »Wolltest du an einem solchen Ort wie hier im Stich gelassen werden, um zu verhungern?«
    »Was meinst du?« rief das Mädchen.
    »Das wird dein Schicksal sein – so wird er dich im Stich lassen.«
    Sie wollte er nicht angreifen, aber Morris hatte er angegriffen. Die Wärme strömte wieder in ihr Herz zurück. »Das ist nicht wahr, Vater«, brach sie aus, »und du solltest das nicht sagen. Es ist nicht recht, und es ist nicht wahr.«
    Er schüttelte gemessen den Kopf. »Nein, es ist nicht recht, weil du es nicht glauben willst. Aber es
ist
wahr. Komm’ zum Wagen zurück.«
    Er brach auf, und sie folgte ihm; er ging schneller und war bald weit voraus. Doch von Zeit zu Zeit blieb er, ohne sich umzusehen, stehen, um sie nachkommen zu lassen, und sie legte ihren Weg nur mit Mühe zurück, wobei ihr Herz vor Erregung pochte, da sie zum ersten |190| Mal so heftig mit ihm gesprochen hatte. Unterdessen war es fast dunkel geworden, und sie verlor ihn zuletzt aus den Augen. Doch sie hielt ihre Richtung ein, und alsbald machte das Tal eine jähe Biegung, und sie gelangte zur Straße, wo der Wagen wartete. Darin saß ihr Vater steif und schweigend; gleichfalls schweigend nahm sie ihren Platz neben ihm ein.
    Später, im Rückblick auf all das, schien es ihr, daß noch Tage lang danach kein Wort zwischen ihnen gewechselt worden sei. Die Szene war eigentümlich gewesen, aber sie hatte Catherines Gefühle gegenüber ihrem Vater nicht auf die Dauer beeinträchtigt, da es schließlich nur natürlich war, daß er ihr gelegentlich irgendeine Szene machte, und immerhin hatte er sie sechs Monate lang in Ruhe gelassen. Das eigentümlichste an der Sache war, daß er gesagt hatte, er sei kein wohlwollender Mensch; Catherine fragte sich lange, was er wohl damit gemeint habe. Der Äußerung schenkte sie keinen Glauben und sie hegte auch keinerlei Groll, der dadurch hätte bestätigt werden können. Selbst in der größten Verbitterung, die sie fühlen mochte, hätte es ihr keine Genugtuung gewährt, ihn für weniger vollkommen zu halten. Ein solcher Ausspruch war Teil seines überlegenen Scharfsinns – Männer, die so klug waren wie er, konnten alles mögliche sagen und alles mögliche meinen, und was seine Härte anging, so war das bei einem Mann sicherlich eine gute Eigenschaft.
    Er ließ sie sechs weitere Monate in Ruhe – sechs Monate, in denen sie sich ohne Einspruch der Verlängerung ihrer Reise fügte. Gegen Ende dieser Zeit aber sprach er wieder mit ihr: es war ganz zuletzt, am Abend bevor sie an Bord des Schiffes nach New York gingen, im Hotel in Liverpool. Sie hatten in einem großen, düsteren, |191| dumpfigen Salon gemeinsam zu Abend gegessen; dann war abgedeckt worden, und der Doktor wandelte langsam auf und ab. Catherine nahm schließlich ihre Kerze, um zu Bett zu gehen, doch ihr Vater winkte ihr zu bleiben.
    »Was gedenkst du zu tun, wenn du heimkommst?« fragte

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