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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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zwischen ihr edelmütiges Herz und ihre glänzenden Aussichten und ihre Pflichten als Tochter treten werde. Er schloß mit einer Andeutung, daß ihn seine Berufstätigkeit womöglich zwingen würde, ein paar Monate auf Reisen zu sein, und mit der Hoffnung, wenn sich jeder von ihnen dem angepaßt habe, was unerbittlich ihre jeweiligen Stellungen im Leben zur Folge hätten – auch wenn dieses Ergebnis erst in Jahren zu erreichen sei –, so sollten sie einander als Freunde begegnen, als Leidensgefährten, als unschuldige, aber einsichtige Opfer der mächtigen Gesellschaftsordnung. Daß ihr Leben friedvoll und glücklich verlaufe, sei der herzliche Wunsch dessen, der es immer noch wage, als ihr ergebenster Diener zu unterzeichnen. Der Brief war wundervoll geschrieben, und nachdem bei Catherine, die ihn viele Jahre lang aufhob, die Empfindung der Bitterkeit seines Inhalts und das Nichtssagende seines Tonfalls an Schärfe nachgelassen hatte, war sie in der Lage, die Gefälligkeit seiner Redewendungen zu bewundern. Momentan aber und noch lange Zeit, nachdem sie den Brief erhalten hatte, war das einzige, was ihr half, der täglich unerschütterlicher werdende Entschluß, sich auf keinen Fall an das Mitgefühl ihres Vaters zu wenden.
    Der ließ eine Woche vergehen und schlenderte dann eines Tages am Vormittag, zu einer Zeit, in der sie ihn sonst selten sah, in den hinteren Salon. Er hatte diesen Zeitpunkt abgewartet und fand sie allein vor. Sie saß über einer Arbeit, und er kam her und stellte sich vor sie |250| hin. Er war dabei auszugehen; er hatte den Hut auf und zog sich gerade die Handschuhe an.
    »Ich habe den Eindruck, du behandelst mich gegenwärtig nicht ganz mit der Rücksicht, die ich verdiene«, sagte er unvermittelt.
    »Ich weiß nicht, was ich getan habe«, erwiderte Catherine, die Augen auf ihre Arbeit gerichtet.
    »Anscheinend hast du dir die Bitte, die ich in Liverpool vor unserer Abreise äußerte, ganz aus dem Kopf geschlagen – die Bitte, mich im voraus zu benachrichtigen, ehe du mein Haus verläßt.«
    »Ich habe ja dein Haus nicht verlassen«, sagte Catherine.
    »Aber du hast vor, es zu verlassen, und nach all dem, was du mir zu verstehen gegeben hast, muß dein Auszug unmittelbar bevorstehen. Du bist zwar körperlich noch anwesend, tatsächlich aber im Geist schon abwesend. Dein Herz hat seine Bleibe bereits bei deinem künftigen Gatten bezogen, und bei all den Wohltaten, die wir durch deine Gesellschaft empfangen, könntest du ebensogut auch unter dem ehelichen Dach logieren.«
    »Ich will versuchen, fröhlicher zu sein«, sagte Catherine.
    »Du solltest wahrhaftig fröhlicher sein; du verlangst schon eine Unmenge, wenn du es nicht bist. Zu dem Vergnügen, einen bezaubernden jungen Mann zu heiraten, kommt für dich noch das hinzu, deinen Willen durchzusetzen; du scheinst mir eine äußerst glückliche junge Dame zu sein!«
    Catherine stand auf; sie war dem Ersticken nahe. Aber sie legte umsichtig und genau ihre Arbeit zusammen, während sie ihr glühendes Gesicht darüber beugte. Ihr Vater blieb da stehen, wo er sich aufgepflanzt hatte; sie |251| hoffte, er würde gehen, aber er glättete seine Handschuhe und knöpfte sie zu, worauf er seine Hände in die Hüften stützte.
    »Es wäre mir genehm zu wissen, wann ich mit einem leeren Haus zu rechnen habe«, fuhr er fort. »Wenn du gehst, setzt sich auch deine Tante ab.«
    Sie sah ihn endlich an, mit einem langen, schweigenden Blick, der trotz ihrem Stolz und ihrem Entschluß einen Teil ihrer Bitte zum Ausdruck brachte, die sie gerade zu unterdrücken versucht hatte. Die kalten grauen Augen ihres Vaters loteten die ihren aus, und er beharrte auf seinem Anliegen.
    »Ist es morgen? Ist es nächste Woche oder die Woche darauf?«
    »Ich gehe nicht fort!« sagte Catherine.
    Der Doktor hob die Augenbrauen. »Hat er sich aus dem Staub gemacht?«
    »Ich habe meine Verlobung gelöst.«
    »Gelöst?«
    »Ich habe ihn gebeten, New York zu verlassen, und er ist für lange Zeit verreist.«
    Der Doktor war zugleich verwirrt und enttäuscht, aber er kam über seine Verwirrung hinweg, indem er sich sagte, seine Tochter stelle den Sachverhalt bloß verkehrt dar – berechtigterweise, wenn man so wollte, doch nichtsdestoweniger verkehrt; und seine Enttäuschung, die Enttäuschung eines Mannes, dem die Gelegenheit zu einem kleinen Triumph entging, mit dem er ziemlich sicher gerechnet hatte, minderte er durch ein paar Worte, die er vernehmlich äußerte.
    »Wie nimmt er

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