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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gruen
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fließt wärmend durch
meine Adern. »Möchten Sie hier auf Ihre Familie warten, oder soll ich Sie in
die Eingangshalle bringen?«
    »Wann fängt die Vorstellung an?«
    »Um drei Uhr«, sagt sie. »Jetzt ist es zwei.«
    »Ich warte in der Eingangshalle. Ich will sofort los, wenn sie
kommen.«
    Rosemary sieht mir geduldig zu, wie ich meinen ächzenden Körper in
den Rollstuhl hieve. Als sie mich in die Eingangshalle fährt, ringe ich nervös
die Hände.
    In der Eingangshalle stehen lauter alte Leute in ihren Rollstühlen
vor den Besucherbänken aufgereiht. Rosemary stellt mich am Ende ab, neben Ipphy
Bailey.
    Sie sitzt vornübergebeugt, wegen ihres alterskrummen Buckels kann
sie nur auf ihren Schoß sehen. Jemand – eindeutig nicht Ipphy – hat sorgsam ihr
dünnes, weißes Haar über die kahlen Stellen gekämmt. Plötzlich dreht sie sich
mir zu. Ihr Gesicht erstrahlt.
    »Morty!«, ruft sie, streckt eine knochige Hand aus und umklammert
mein Handgelenk. »Oh, Morty, du bist wieder da!«
    Ich reiße meinen Arm weg, aber sie lässt nicht los. Sie zieht mich
zu sich heran, als ich zurückzucke.
    »Schwester!«, brülle ich, während ich versuche, mich loszuwinden.
»Schwester!«
    Im nächsten Augenblick eist mich jemand von Ipphy los, die glaubt,
ich sei ihr toter Mann. Darüber hinaus ist sie davon überzeugt, ich würde sie
nicht mehr lieben. Sie beugt sich weinend über die Stuhllehne und wedelt
verzweifelt mit den Armen, weil sie mich erreichen will. Die Schwester mit dem
Pferdegesicht fährt mich ein Stückchen zur Seite und stellt meine Gehhilfe
zwischen uns.
    »Oh, Morty, Morty! Sei doch nicht so!«, jammert Ipphy. »Du weißt
doch, das hat mir nichts bedeutet. Es war gar nichts – ein schrecklicher
Fehler. Oh, Morty! Liebst du mich denn nicht mehr?«
    Zornig reibe ich mir das Handgelenk. Warum gibt es für solche Leute
nicht eine eigene Abteilung? Die alte Schachtel ist offenbar nicht mehr ganz
bei Trost. Sie hätte mich verletzen können. Andererseits würde ich, wenn es
hier eine Sonderabteilung gäbe, nach heute Morgen wahrscheinlich genau da
landen. Ich richte mich auf, als mir etwas einfällt. Vielleicht hat das neue
Medikament diesen Aussetzer verursacht – ich muss Rosemary danach fragen. Oder
lieber doch nicht. Der Gedanke hat mich aufgemuntert, und ich möchte an ihm
festhalten. Ich muss mir meine kleinen Inseln der Freude bewahren.
    Mit der Zeit verschwinden immer mehr Leute, bis die Rollstuhlreihe
so lückenhaft ist wie das Grinsen eines Halloweenkürbisses. Eine Familie nach
der anderen stürzt sich mit lautem Hallo auf ihren altersschwachen Vorfahr.
Starke Körper beugen sich über schwache, Küsse werden auf Wangen gedrückt und
Bremsen losgetreten. Nach und nach verschwinden die alten Leute, umringt von
ihren Verwandten, durch die Schiebetüren.
    Ipphys Familie macht bei ihrer Ankunft großes Aufhebens darum, wie
sehr sie sich freuen, sie zu sehen. Ipphy sperrt Augen und Mund weit auf,
während sie verwirrt, aber erfreut die Gesichter betrachtet.
    Jetzt sind nur noch sechs von uns übrig, und wir beäugen einander
argwöhnisch. Jedes Mal, wenn sich die Glastüren öffnen, drehen wir wie ein Mann
den Kopf, und einer fängt an zu strahlen. Und so geht es weiter, bis ich als
Letzter übrig bin.
    Die Wanduhr zeigt zwei Uhr fünfundvierzig. Verdammt! Wenn sie nicht
bald auftauchen, verpasse ich die Parade. Ich rutsche hin und her, dabei fühle
ich mich alt und verdrossen. Zum Teufel, ich bin alt
und verdrossen, aber ich muss mir Mühe geben, nicht die Beherrschung zu
verlieren, wenn sie kommen. Ich werde sie einfach durch die Tür scheuchen und
klarstellen, dass keine Zeit für Höflichkeiten bleibt. Sie können mir nach der
Vorstellung erzählen, wer befördert wurde und wer wo im Urlaub war.
    Rosemary streckt den Kopf durch die Tür. Sie sieht in beide
Richtungen und bemerkt, dass ich alleine in der Eingangshalle sitze. Sie geht
in die Schwesternstation und legt ihr Klemmbrett auf den Tresen. Dann kommt sie
herüber und setzt sich neben mich.
    »Hat Ihre Familie sich immer noch nicht blicken lassen, Mr.
Jankowski?«
    »Nein!«, schimpfe ich. »Und wenn sie nicht bald kommen, hat es eh
keinen Sinn mehr. Die guten Plätze sind sicher schon weg, und die Parade
verpasse ich auch.« Ich sehe wieder auf die Uhr, mir ist elend und weinerlich
zumute. »Warum sind sie so spät dran? Sonst sind sie um diese Zeit längst
hier.«
    Rosemary sieht auf ihre Uhr. Sie ist goldfarben und hat ein
Zugarmband, das

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