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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gruen
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offenbar ihre Haut einklemmt. Ich habe meine Uhr immer locker
getragen, als ich noch eine hatte.
    »Wissen Sie, wer heute kommt?«, fragt sie.
    »Nein. Das weiß ich nie. Es ist mir auch ziemlich egal, solange sie
nur rechtzeitig hier sind.«
    »Ich werde mal sehen, was ich herausfinden kann.«
    Damit geht sie hinter den Tresen der Schwesternstation.
    Ich mustere jeden, der auf dem Bürgersteig hinter den Schiebetüren
vorbeigeht, auf der Suche nach einem bekannten Gesicht. Aber sie verschwimmen
alle miteinander. Rosemary steht hinter dem Tresen und telefoniert. Dann sieht
sie mich an, hängt auf und wählt erneut.
    Die Uhr zeigt mittlerweile zwei Uhr dreiundfünfzig an – nur noch
sieben Minuten bis zur Vorstellung. Mein Blutdruck ist so angestiegen, dass
mein ganzer Körper summt wie die Neonlampen über mir.
    Mein Vorhaben, nicht die Beherrschung zu verlieren, habe ich längst
aufgegeben. Wer hier auch auftaucht, bekommt ordentlich was zu hören, so viel
ist sicher. Jede alte Schachtel und jeder alte Knacker außer mir kriegt die
ganze Vorstellung, auch die Parade zu sehen, und das soll fair sein? Wenn einer
aus diesem Laden ein Recht hat, dort zu sein, dann ich. Oh, wartet nur, bis mir
einer unter die Augen tritt. Wenn es eines meiner Kinder ist, lege ich sofort
los. Ist es einer von den anderen, nun, dann warte ich, bis …
    »Es tut mir so leid, Mr. Jankowski.«
    »Hm?« Ich hebe rasch den Blick. Rosemary ist wieder da, sie sitzt
auf dem Stuhl neben mir. In meiner Panik habe ich sie nicht bemerkt.
    »Sie haben völlig verschlunzt, wer an der Reihe ist.«
    »Und auf wen haben sie sich geeinigt? Wie lange brauchen sie, bis
sie hier sind?«
    Rosemary zögert. Sie presst die Lippen aufeinander und nimmt meine
Hand. Sie sieht aus wie jemand, der gleich schlechte Nachrichten überbringt,
und schon vorab schnellt mein Adrenalinspiegel in die Höhe. »Sie schaffen es
nicht«, sagt sie. »Eigentlich wäre Ihr Sohn Simon dran gewesen. Als ich
angerufen habe, fiel es ihm wieder ein, aber er hatte schon was anderes vor.
Bei den anderen Nummern hat niemand abgenommen.«
    »Was anderes vor?«, krächze ich.
    »Ja.«
    »Haben Sie ihm vom Zirkus erzählt?«
    »Ja, habe ich. Es tat ihm auch sehr leid. Aber er konnte das andere
einfach nicht mehr absagen.«
    Ich verziehe das Gesicht, und ohne es zu wollen, heule ich los wie
ein Kind.
    »Es tut mir so leid, Mr. Jankowski. Ich weiß, wie wichtig Ihnen das
war. Ich würde Sie ja selbst hinbringen, aber ich habe heute eine
Zwölf-Stunden-Schicht.«
    Ich halte die Hände vors Gesicht, um meine Altmännertränen zu
verbergen. Wenige Sekunden später baumelt ein Taschentuch vor meinem Gesicht.
    »Sie sind ein gutes Mädchen, Rosemary«, sage ich, nehme das
Taschentuch und halte es unter meine Schniefnase. »Das wissen Sie, oder? Ich
weiß nicht, was ich ohne Sie machen würde.«
    Sie betrachtet mich lange. Zu lange. Schließlich sagt sie: »Mr.
Jankowski, Sie wissen doch, dass ich morgen gehe, oder?«
    Mein Kopf ruckt hoch. »Was? Für wie lange?« Oh, verdammt. Das fehlt
mir noch. Wenn sie Urlaub macht, habe ich ihren Namen wahrscheinlich vergessen,
bis sie zurück ist.
    »Wir ziehen nach Richmond, um näher bei meiner Schwiegermutter zu
sein. Ihr geht es in letzter Zeit nicht gut.«
    Ich bin perplex. Mein Kiefer zuckt einen Moment lang hilflos, bevor
ich sprechen kann. »Sie sind verheiratet?«
    »Seit sechsundzwanzig glücklichen Jahren, Mr. Jankowski.«
    »Seit sechsundzwanzig Jahren? Nein. Das glaube ich nicht. Sie sind
doch noch ein halbes Kind.«
    Sie lacht. »Ich bin schon Großmutter, Mr. Jankowski. Ich bin siebenundvierzig.«
    Wir sitzen einen Augenblick lang schweigend nebeneinander. Sie
greift in ihre blassrosafarbene Tasche und ersetzt mein durchnässtes
Taschentuch durch ein frisches. Ich tupfe mir damit die tiefliegenden Augen
trocken.
    »Ihr Mann kann sich glücklich schätzen«, schniefe ich.
    »Das können wir beide. Wir sind wirklich gesegnet.«
    »Ihre Schwiegermutter auch. Wussten Sie, dass nicht ein einziges
meiner Kinder mich aufnehmen konnte?«
    »Nun … Das ist nicht so einfach, wissen Sie.«
    »Das habe ich auch nicht behauptet.«
    Sie ergreift meine Hand. »Ich weiß, Mr. Jankowski. Ich weiß.«
    Die ganze Ungerechtigkeit bricht über mich herein. Ich schließe die
Augen und stelle mir die alte, sabbernde Ipphy Bailey im Chapiteau vor. Sie
wird nicht einmal mitbekommen, dass sie dort ist, und sich schon gar nicht
daran erinnern.
    Nach ein paar Minuten

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