Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
einem Fingerzeig den Beginn von
Lucindas Trauerzug. Auf ihrem langsamen Weg durch die Stadt folgen ihr zu Fuß
alle halbwegs vorzeigbaren Mitglieder von Benzinis
Spektakulärster Show der Welt . Onkel Al ist untröstlich, er weint und
schnaubt in sein rotes Taschentuch und gestattet sich nur hin und wieder einen
kurzen Blick, um abzuschätzen, ob der Trauerzug die richtige Geschwindigkeit
vorlegt, um die größtmögliche Menge anzuziehen.
Direkt hinter dem Flusspferdwagen laufen die Frauen mit, sie tragen
allesamt Schwarz und tupfen sich mit eleganten Spitzentaschentüchern die
Augenwinkel. Ich bin weiter hinten, umgeben von wehklagenden Männern mit
tränenüberströmten Gesichtern. Onkel Al hat drei Dollar und eine Flasche
kanadischen Whiskey für denjenigen ausgelobt, der am überzeugendsten ist. Eine
solche Trauer hat man noch nicht gesehen – selbst die Hunde heulen.
Beinahe eintausend Städter folgen uns zum Zirkusplatz. Als Onkel Al
auf der Kutsche aufsteht, wird es ganz still.
Er nimmt den Hut ab, drückt ihn sich an die Brust und wischt sich
mit einem Taschentuch über die Augen. Dann hält er eine herzzerreißende Rede,
während der er so bestürzt ist, dass er sich kaum beherrschen kann.
Abschließend sagt er, wenn es nach ihm ginge, würde er aus Respekt vor Lucinda
die Vorstellung heute Abend absagen. Aber das kann er nicht. Es liegt nicht in
seiner Macht. Er ist ein Ehrenmann, und an ihrem Totenbett hat sie seine Hand
ergriffen und ihm das Versprechen – nein, den Schwur – abgenommen, dass ihr offenbar baldiges Ende die geplante Vorstellung nicht
stören dürfe, um nicht Tausende von Menschen zu enttäuschen, die sich auf einen
Tag im Zirkus gefreut haben.
»Denn schließlich …« Onkel Al stockt, schlägt sich mit einer Hand
auf die Brust und schnieft kläglich. Er hebt den Blick gen Himmel, während ihm
Tränen über das Gesicht rinnen.
Die Frauen und Kinder in der Menge weinen ungeniert. Weiter vorne
hebt eine Frau einen Arm an die Stirn und bricht zusammen, während sich die
Männer neben ihr darum reißen, sie aufzufangen.
Mit aller Kraft nimmt Onkel Al sich zusammen, ein Zittern der
Unterlippe jedoch kann er nicht unterdrücken. Er nickt bedächtig und fährt
fort. »Denn schließlich wusste unsere liebste Lucinda nur zu gut … the show must go on! «
An diesem Abend herrscht riesiger Andrang – es reicht für einen
»Strohboden«, so genannt wegen des Strohs, das die Racklos, wenn alle regulären
Plätze besetzt sind, auf die Pferdebahn streuen, damit sich die überzähligen
Besucher darauf setzen können.
Onkel Al beginnt die Vorstellung mit einem Schweigemoment. Er senkt
den Kopf, quetscht echte Tränen hervor und widmet die folgenden Darbietungen Lucinda,
deren große, umfassende Selbstlosigkeit der einzige Grund ist, warum wir
angesichts unseres Verlusts weitermachen können. Ihr zu Ehren geben wir unser
Bestes – oh, ja, unsere Liebe zu Lucinda war so einzigartig, dass wir trotz der
verzehrenden Trauer, die uns die Herzen zerreißt, die Kraft aufbringen, ihr den
letzten Wunsch zu erfüllen, und ihr zu Ehren unser Bestes geben werden. Solche
Wunder haben Sie noch nie gesehen, meine Damen und Herren, Nummern und Artisten
aus allen Teilen der Welt, die Sie erfreuen und unterhalten, Seiltänzer,
Akrobaten und Trapezkünstler von höchstem Können …
Etwa ein Viertel der Vorstellung ist vorbei, als sie die
Menagerie betritt. Ich spüre ihre Gegenwart, noch bevor ich das erstaunte
Gemurmel um mich herum höre.
Ich setze Bobo auf den Käfigboden. Dann drehe ich mich um, und
richtig, da steht sie, wunderschön in ihren rosafarbenen Pailletten und dem
Federkopfschmuck. Sie nimmt den Pferden die Halfter ab und lässt sie fallen.
Nur Boaz, ein schwarzer Araberhengst und vermutlich Silver Stars Pendant,
bleibt angebunden, und ganz offensichtlich gefällt ihm das nicht.
Gebannt lehne ich mich an Bobos Käfig.
Die Pferde, mit denen ich Nacht für Nacht von einer Stadt zur
anderen gefahren bin und die sonst wie ganz normale Pferde aussehen, sind wie
verwandelt. Pustend und schnaubend strecken sie Kopf und Schweif empor. Tänzelnd
teilen sie sich in zwei Gruppen auf, in eine schwarze und eine weiße. Marlena
stellt sich vor sie, in jeder Hand eine lange Peitsche. Eine davon schwingt sie
hoch über ihrem Kopf. Dann geht sie rückwärts und führt sie aus der Menagerie.
Die Pferde sind vollkommen frei. Sie tragen weder Halfter noch Zügel oder
Sattelgurte, nichts. Sie folgen ihr
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