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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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eine noch.
    Er schraubte die Kappe von seinem Füllfederhalter. Als er zu schreiben begann, merkte er zu seiner Verwunderung, daß seine Hände ganz ruhig waren. Er wußte, was er schreiben wollte. Er hatte jeden Morgen nach der richtigen Formulierung, dem richtigen Wort gesucht, während er wachlag im Bett und darauf wartete, daß der erste Vogel zu schreien begann. Man konnte so vieles falsch machen. Und ob er es richtig gemacht hatte, würde er nie erfahren.
    Seine Lippen bewegten sich lautlos, als er den Brief noch einmal las. Dann unterschrieb er, fügte Ort und Datum hinzu und wartete, bis die Tinte trocken war. Aus der linken Schublade seines Schreibtisches holte er einen Briefumschlag. Er faltete den Brief und steckte ihn hinein. »Für Paul Bremer«, schrieb er auf den Umschlag, den er in die Schreibtischschublade in der Mitte steckte. Dann schraubte er den Füllfederhalter zu, legte die Hände wieder auf die Schreibtischplatte und lehnte sich zurück.
    »Verzeih mir, mein Junge«, sagte er.
    »Und was soll er dir verzeihen?« fragte die Stimme, die ihn seit einigen Jahren begleitete. Neuerdings war sie täglich da: wie auferstanden von den Toten. Es stimmte, was er immer für eine Beschönigung der unbestreitbaren Tatsache des Todes gehalten hatte – daß niemand wirklich tot war, an den sich irgend jemand noch erinnerte. Er erinnerte sich täglich besser. Und sie kam jeden Tag näher.
    »Das weißt du sehr gut, Gudrun.« Er schloß die Augen. Daß ich ihm nie die Wahrheit gesagt habe.
    Ihm war, als ob er sie seufzen hörte. Sie kam ihm näher, je weiter er sich von der Welt entfernte. Ich komme, dachte er. Bald. Eigentlich glaubte er nicht an ein Leben nach dem Tod. Aber neuerdings sagte er sich: Man kann nie wissen.
    Er mußte eingeschlafen sein – Hundegebell weckte ihn auf. Der alte Zigeuner, der auf seinem Platz unter dem Fenster gedöst hatte, war zur Zimmertür gelaufen und bellte sie aufgeregt an. Auf dem Flur hörte er jemanden hin- und herlaufen, eine Männerstimme »Was mußtest du auch mit ihr beten gehen?« schreien.
    »Lassen Sie mich los!« Das war die Stimme von Agata. Wallenstein stützte sich mit beiden Händen auf die Armlehnen seines Stuhls. Es hörte sich so an, als ob im Flur zwei Menschen miteinander kämpften. Wer war der Mann? Versuchte jemand, Agata etwas anzutun?
    »Agata!« rief Wallenstein und wollte in die Räder seines Rollstuhls greifen. »Agata!«
    Zigeuners Stimme überschlug sich fast vor Wut und Aufregung. Wallenstein fühlte sein Herz stolpern, als er merkte, daß er nicht, wie gewohnt, in seinem Rollstuhl saß – sondern in seinem Schreibtischsessel. Sein Rollstuhl war in der Werkstatt. Einen Ersatz hatte er abgelehnt, weil er geglaubt hatte, bis heute abend könne er auch ohne ihn auskommen. Und jetzt mußte womöglich Agata bezahlen für seinen Stolz und seinen Hochmut. Er hörte sie laut aufschreien. Wieder lief jemand mit schwerem Schritt durch den Flur, irgend etwas polterte, dann ging die Haustür, dann schlug sie zu. Dann war es plötzlich still.
    »Agata!« rief Wallenstein. Der Hund bellte noch immer.
    Ohne groß darüber nachzudenken, ließ Wallenstein sich aus dem Stuhl gleiten. Er mußte zur Tür, in den Flur, nach Agata sehen, zum Telefon, Hilfe holen. Er hielt sich am Schreibtisch fest. Seine Beine gaben nach, als seine Füße den Boden berührten. Er ließ sich fallen und stieß sich das Knie am Schreibtisch. Der plötzliche Schmerz lähmte ihn und nahm ihm für Sekunden den Atem. Mürbe Muskeln, morsche Knochen, dachte er noch. Winselnd war der Hund bei ihm und versuchte, ihm das Gesicht zu lecken.
    »Laß das, Zigeuner. Ist ja gut, Zigeuner.« Das Tier setzte sich auf die Hinterkeulen und sah ihn an – besorgt, verängstigt, die ganze verstörte Hundeseele lag in diesem Blick.
    »Ich schaff das schon, Zigeuner.« Wallenstein biß die Zähne zusammen, drehte sich auf den Bauch, stützte sich auf die Ellenbogen und versuchte, sich vorwärts Richtung Zimmertür zu robben.
    Janz wird mir das nie verzeihen, dachte er. Wenn Agata etwas passiert. Er beobachtete seit langem, wie sehnsüchtig der Freund ihr hinterherschaute. Der spröden, dickköpfigen Polin. Aber langsam schien es ihr aufgefallen zu sein. Gestern hatte er gesehen, wie sie Janz hinterherguckte, ganz versonnen. Sie war sogar ein bißchen errötet, als sie merkte, daß er ihr zugesehen hatte dabei. Wenn zwei Menschen einander glücklich machen konnten – warum taten sie es dann nicht

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