Wasser zu Wein
erreichen können. Das glaubten wir alle. Und vielleicht haben wir gar nicht gemerkt, wie sehr wir sie damit unter Druck setzten. Unter Erfolgszwang.« Panitz griff wieder nach dem Wasserglas.
»Meine Eltern glaubten fest, sie würde den Aufstieg schaffen, der ihnen nicht gelungen war. Niemandem kam in den Sinn, daß Eva womöglich anderes vorhatte in ihrem Leben. Keinem von uns.«
Das überraschte Kosinski. In dieser Familie war offenbar nicht der Sohn der Hoffnungsträger gewesen, sondern die Tochter.
»Ich glaube, sie fühlte sich überfordert von all diesen Ansprüchen. Sie brach ihr Studium ab, heiratete den ersten Besten und versuchte es mit dem kleinen Glück.« Panitz hatte ganz schmale Lippen und Tränen in den Augen.
»Manchmal glaube ich, daß sie vor ihrem Tod bei uns allen die alte Eva suchte. Das Mädchen mit den schönsten Kleidern und mit den rotesten Lippen. Nicht die gescheiterte Ehefrau und Mutter, der nie etwas gelungen war in ihrem Leben. Ich glaube, daß sie wissen wollte, wer sie war.«
»Evchen.«
»Nein, eben nicht Evchen, Paul. Eva. Nicht mehr so jung, nicht mehr so blond und nicht mehr so von der Sonne beschienen.«
Panitz sah noch immer niemanden an. »Sie sah sich als Versagerin. Das mit ihrem Sohn – das war das Schlimmste für sie. Daß er ausgerechnet an Aids starb, erschien ihr wie eine Strafe Gottes für die eigenen Sünden. Sie litt unter der Zwangsvorstellung, sie sei daran schuld.« Er schüttelte mit dem Kopf. »Und niemand hat ihr geholfen. Niemand.«
»Und Sie?« Kosinski registrierte, wie Panitz’ gerötetes Gesicht merklich blasser wurde.
»Ich habe es versucht.« Panitz klang kraftlos. »Ihr Sohn war längst für sich selbst verantwortlich. Aber sie war von der Idee nicht abzubringen. ›Ich habe gesündigt‹, sagte sie, immer wieder. Ich konnte den Satz schon nicht mehr hören.«
Bremer sah aus, als ob ihm jemand in seinen Lieblingsluftballon gestochen hätte, dachte Kosinski. War ihm das alles neu?
»Sogar Pfarrer Warnhart, der Eva immer die Beichte abgenommen hatte, muß ihr das auszureden versucht haben.«
Zum Dank hatte sie ihm die Kirche in die Luft gesprengt. Kosinski schüttelte den Kopf.
»Er hat mir nach der Beerdigung gesagt, er habe ihr klarzumachen versucht, daß die Menschen nicht über alles Macht haben, daß nicht alles Schuld ist, daß es auch Schicksal gibt, das wir hinnehmen müssen«, sagte Panitz.
»Es ist menschliche Überheblichkeit, auch für das noch Verantwortung übernehmen zu wollen, was in des Herrgotts Hand liegt.« Gregor Kosinski konnte das Argument im Schlaf hersagen.
Panitz lachte freudlos. »Wir standen vor der zerstörten Kirche. Sagt der Priester zu mir: ›Sie sehen doch, was passiert, wenn Menschen glauben, ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen zu müssen.‹«
»Aber wer will Eva rächen? Und warum – an Ihnen?« fragte Kosinski nach einer Weile. Das alles machte einfach keinen Sinn.
»Jemand, der Eva für ein Opfer hält.«
Kosinski runzelte die Stirn. Karen Stark mischte sich schon wieder ein. »Wessen Opfer?« fragte er schärfer, als er eigentlich wollte. Karen hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
3
Die Sonne lag hinter dünnen Wolkenschleiern, und vom Flußufer her wehte der Geruch von stehendem Wasser und Diesel herüber. Der Wind blies ihr die Haare aus der Stirn und drückte ihr den Rock an die Beine. Paul war längst abgebogen in die Gasse, die zum Haus seines Großonkels führte. Karen war allein auf dem Weg ins Hotel.
War Eva Lambert, die Selbstmörderin und Mörderin, ein Opfer? Von Mißbrauch, zum Beispiel? Möglich war es. Sie hatte offenbar alle Symptome gezeigt. Die echten, nicht die Symptome der eingebildeten Mißbrauchsopfer, die es mittlerweile massenweise gab und die erheblichen Krankheitsgewinn aus der Diagnose zogen, daß nicht sie, sondern andere schuld an ihrem Elend waren. Wirkliche Mißbrauchsopfer erstickten an der eigenen Schuld. Und auch, daß Eva nicht nein sagen konnte, wie Panitz behauptete, sprach für die Diagnose. Mißbrauch durch den Vater? Durch den Bruder? Das wiederum würde erklären, warum sich jemand ausgerechnet an Panitz für Eva rächen wollte.
Andererseits – war, wer so aus dem Leben ging, nicht auch von Rachewünschen gejagt? An wem hatte sich Eva rächen wollen? An denjenigen, die sie mit in den Tod nahm? Vier ältere Leute – drei Frauen, ein Mann – und ein Kind. Unwahrscheinlich. An deren Angehörigen? Karen blieb vor dem Hoteleingang stehen,
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