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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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einsame Gestalt auf einer Bank. Das mußte sie sein. Karen schwang sich den Weg hoch, am Spielplatz vorbei, von dem her schreckliches Wehgeschrei ertönte. Vielleicht hatte sich der kleine Kerl den Klaps ja verdientermaßen eingehandelt. Aber das herzzerreißende Weinen beschleunigte ihren Schritt. Sie mochte sich nicht vorstellen, was Elisabeth empfand, wenn sie weinende Kinder hörte.
    Die Gestalt auf der von Tauben bekleckerten Bank hatte eine braune Packpapiertüte neben sich stehen, aus der ein Flaschenhals ragte. Als Karen heran war, setzte der ausgemergelte Mann in den ausgelatschten Turnschuhen und der hellbraunen Kordhose gerade die Flasche an. Ein grün angelaufener Friedrich Schiller im Profil sah von dem großen Findling herab zu. Deutscher Geist und deutsches Leben. Ein schönes Paar.
    Sie machte kehrt. Laß mich nachdenken, Elisabeth. Laß mir Zeit, verdammt.
    Wo war Elisabeth, wenn sie nicht den Kindern zusah? Am Fluß. Oder – Karens Herz setzte kurz aus, um dann beschleunigt weiterzupochen – oder sie saß am Bahndamm und wartete auf den nächsten Zug.
    Ihr weißes T-Shirt unter dem Jackett war naßgeschwitzt. Sie gab ihr Bestes – aber Gefühl und Verstand sagten ihr, daß die Zeit knapp wurde. Sie schwang sich zum Leinpfad zurück. Als sie an den Bahndamm kam, hörte sie das Sirren der Gleise. Die Bahnschranken waren heruntergelassen, der Zug würde bald da sein. Sie beschleunigte noch einmal den Takt, in dem sie sich vorwärtsschwang. Das mußte Elisabeth sein, dort, auf der Bank vor der Bahnschranke. Sie hörte den Zug jetzt ganz deutlich, sah die einsame Figur auf der Bank neben sich greifen. Gleich würde sie aufstehen, gleich an die Gleise gehen. Warte, Elisabeth, verdammt!
    Karen atmete schwer, als sie sich neben die dunkelhaarige Frau auf die Bank fallen ließ. Die Frau saß sehr aufrecht und hielt mit beiden Händen den Bügel einer Handtasche umklammert, die auf ihrem Schoß stand. Karen hörte den Schnappverschluß der Handtasche klacken – einer weißen, viereckigen Tasche, deren Material wie imitiertes Krokodilleder aussah. Die Frau machte die Tasche auf. Und wieder zu. Und wieder auf. Und wieder zu. Und guckte dabei ins Leere.
    Auch sie war nicht Elisabeth Klar. Karen seufzte, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Aber zu den glücklicheren Menschenkindern gehörte ihre Nachbarin ebensowenig. Als das Geräusch des sich nähernden Zuges lauter wurde, beschleunigte sich das Klacken, mit dem die Frau ihre Handtasche zuschnappen ließ.
    Als der Zug fast auf ihrer Höhe angelangt war, streckte Karen, ohne zu überlegen, den linken Arm aus und ließ ihn wie eine Schranke vor die andere Frau fallen – instinktiv, so, wie man versuchte, einen nicht angeschnallten Beifahrer zu schützen, wenn man hart auf die Bremse treten mußte.
    »Bleiben Sie sitzen!« befahl sie. Sie hatte keine Lust auf eine weitere Selbstmörderin. Der Zug stampfte vorbei. Sie atmete geräuschvoll aus.
    »Ich denke immer seltener daran«, sagte nach einer Weile eine dünne Stimme neben ihr. Karen drehte sich zu ihr hin. Die Frau war älter als Elisabeth Klar. Das dunkle Haar war gefärbt. Die hellen blauen Augen bewegten sich unruhig. »Ich bin fast runter von der Idee.« Die Frau klackte mit dem Taschenverschluß. »Fast.« Sie nickte bekräftigend.
    Karen Stark stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Gesicht in die Hände. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob ihre Brust zu eng wäre für die ganze frische Luft, die sie umgab. »Mutter Maria, gebenedeit seist du unter den Weibern«, flüsterte sie die Worte ihrer Kindheit wie eine Zauberformel. Und sag mir, daß ich nicht gescheitert bin. Daß ich nicht versagt habe, mit allem, was ich tue. Daß ich nicht unwürdig bin. Daß mein Leben kein Fehler war. Und daß ich wenigstens, wenigstens Elisabeth finde, bevor es zu spät ist.
    Sie atmete tief durch. Und noch einmal. Aber nur noch ein Fünkchen in ihr sträubte sich gegen das überwältigende Gefühl, das sich hier in Wingarten wie ein Pesthauch auf alles zu legen schien: daß sie, wie Eva und Elisabeth und wer weiß wieviele Frauen aus diesem gottverdammten Kaff, unwert war. Unwürdig. Unfähig. Daß sie das Schlimmste nicht würde verhindern können. Und zur Strafe gezwungen war weiterzuleben. So wie Elisabeth weiterlebte. Und Eva weitergelebt hatte – bis sie gewaltsam gegen das Weiterleben aufbegehrt hatte.
    »Es ist nicht die Lösung, Kindchen«, sagte die dünne Stimme neben ihr, »glauben

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