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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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einfach?
    Wallenstein kam nur eineinhalb Meter weit. Selbst sein eingeschrumpfter Körper war noch zu schwer für seine schwach gewordenen Arme. Er mußte eine Pause einlegen. Zigeuner hatte sich ebenfalls auf den Bauch gelegt und war neben ihm her gerutscht. Der Hund winselte wieder. Wallenstein legte den Kopf zur Seite und machte beruhigende Laute. Hund und Herr lagen vor der Vitrine, auf der die Pokale standen – aus der Zeit, als Wallenstein noch jeden Freitag ins Sängerheim ging. Jeden Mittwoch zur Doppelkopfrunde. Und zweimal die Woche zum Schwimmen. Aber heute taugten seine früher so starken Arme nichts mehr.
    »Agata!« rief er wieder. Nichts rührte sich. Was war passiert? War sie entführt worden? War sie verletzt? Lag sie ohnmächtig da draußen? Oder – lebte sie nicht mehr? Er merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach, ein kalter, klammer Schweiß.
    »Du schaffst es!« sagte Gudruns Stimme. Und tatsächlich: Irgendwo mußte noch ein Fünkchen Kraft gesteckt haben. Wieder versuchte er, vorwärtszurobben über den glatten Dielenboden, auf dem seine Ellenbogen immer wieder wegrutschten. Als er mit dem rechten Ellenbogen gegen ein Stuhlbein prallte, schrie er vor Schmerz auf. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
    Er bekam nicht mehr mit, wie der alte Hund raste vor Verzweiflung. Als Zigeuner seinen Herrn leblos auf dem Boden liegen sah, drehte er durch. Kläffend und heulend sprang er vor der Zimmertür in die Höhe, bis er sich an der Türklinke Pfoten und Schnauze blutig geschlagen hatte.

5
    Es gab im Grunde nur zwei Möglichkeiten: hinauf, in die Weinberge. Oder hinunter, an den Fluß. Sie wußte, was sie tun würde. Das mußte genügen. Zehn Minuten später schwang sich Karen die engen Gassen entlang, als ob sie niemals eine andere Fortbewegungsart gekannt hätte als die auf einem Bein und zwei Krücken. Was eine Woche Übung so ausmachte.
    Natürlich würde sie, so schnell sie mittlerweile auch war, niemanden einholen können. Aber sie konnte jeden ausmanövrieren – durch Einfühlungsvermögen. Ich weiß, was du fühlst, dachte sie. Weshalb ich ahne, was du machen wirst … Sie glaubte, das fehlende Teil gefunden zu haben, das das Puzzle vollendete.
    Es ging bergab, aus der Altstadt hinaus. Horden von Japanern kletterten aus einem Reisebus, der dampfend auf dem großen Parkplatz am Eingang Wingartens stand. Vielleicht waren es auch Koreaner. Wer konnte hierzulande schon unterscheiden zwischen den unterschiedlichen Völkern Asiens, zumal wenn sie massenhaft auftraten – noch nicht einmal die aufgeklärten Anhänger der multikulturellen Gesellschaft, zu denen Karen sich zählte. Die asiatischen Touristen hatten schwere Fototaschen umgehängt und Rucksäcke auf den Rücken. Eine ganze Gruppe von ihnen scharte sich um das Plakat, das am Rande des Parkplatzes für den Besuch des »Foltermuseums« warb. Auch diesbezüglich hatte Wingarten etwas zu bieten. Und wenn erstmal all die anderen Ungeheuerlichkeiten Schlagzeilen gemacht hatten … »Die Hexen von Wingarten« …
    Einige der Touristen hatten sich nach ihr umgedreht und zeigten mit dem Finger auf sie. Karen fand dieses Interesse erst befremdlich und dann mit einem Mal einleuchtend. Wann sah man schon mal in Japan (oder in Korea oder wo auch immer) ungewöhnlich große weiße Frauen, die mit wehenden roten Haaren auf Krücken durch die Gegend hechteten?
    Sie überquerte den Bahndamm und bog links ab in den Leinpfad am Fluß entlang. Unter den Platanen standen Bänke, saßen Menschen, die einander ihr unverständliche Dinge zuriefen. Wahrscheinlich Passagiere des holländischen Ausflugsdampfers, der »Princes Christina«, die am Ufer lag. Karen lächelte zurück, als ein junger Mann die Hand an einen imaginären Hut legte, während sie mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit an ihm vorbeieilte.
    Linker Hand ertönten Rufe von einem großen Fußballfeld, »Jawoll!« und »Abgebbe!« rief ein Männerbaß inmitten johlender Kinder. Der Spielplatz lag gleich nebenan. Auf der Wippe saßen zwei fröhlich krähende Wichte und ließen sich von einer jungen Frau in Kopftuch und Kittel hoch und runter bewegen. »Jiiiiuuuuh«, machte ein junges Mädchen mit Pferdeschwanz, das einem quietschenden kleinen Jungen in der Schaukel den nötigen Schwung verpaßte. Karen blickte sich suchend um. Keine Elisabeth. Hatte sie sich so verkalkuliert?
    Weiter oben, auf einem von blühenden Fliederbüschen umsäumten Rondell um einen großen, bemoosten Findling herum, saß eine

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