Wasser zu Wein
konnte:
»In Altenzell hat eine Krähe eine Frau und ihre beiden kleinen Kinder angegriffen!« Lieselotte Becker scharte ihre Brut um sich. Carmen und Kevin hatten vor Aufregung und Andacht den Daumen in den Mund gesteckt. Paul, der die beiden als Tierquäler in Verdacht hatte, traute ihnen auch klammheimliche Freude beim Gedanken an gegrillte Angler zu.
»Erst hat das Vieh auf ihrem Auto herumgehackt, und als sie es verscheuchen wollten, ist es im Sturzflug auf sie losgegangen.«
»Die Vögel«, murmelte Paul.
»Was?« fragte Willi.
»Von Hitchcock«, sagte Paul.
»Ach so«, sagte Willi.
Marianne hatte sich ganz nah neben ihren Mann gestellt. »Die Carola aus Heckbach, die ist ja eigentlich wegen ihrer Hunde umgekommen.« Alle nickten, die Sache war erst vor zwei Wochen passiert. »Wenn die beiden dummen Köter nicht auf die Fahrbahn gerannt wären …« Carola war ihnen hinterhergelaufen, auf die vielbefahrene B 27, war gestolpert, gestürzt und von einem Kleinlastwagen überfahren worden.
»Wenigstens hat es eine der beiden Tölen auch erwischt.« Der Hundebesitzer Müller legte Wert auf ein angemessenes Verhältnis zwischen Herr und Hund.
»Und kennt ihr die Geschichte mit der Eule?« fragte Karlheinz Becker.
»Und was ist mit den Fledermäusen, die Tausende von Rindern umgebracht haben?« Auch Erwin las die Zeitung, vor allem die Seite »Aus aller Welt«. Kevin und Carmen hörten mit großen Augen zu.
Paul sah Willi an, der erschüttert wirkte. Konnte das sein, daß sogar Willi plötzlich die Rache der gequälten Kreatur fürchtete? »Willst du nicht wenigstens dein Schweine-KZ abschaffen?« flüsterte er, »sozusagen als praktische Buße?«
Der Blick, den Willi ihm zuwarf, erschütterte wiederum Bremer. Willi schien diesen Gedanken nicht mehr gänzlich abartig zu finden. Dann gab er sich einen Ruck. »Kein Behördenheini schlachtet mir meine Highlander ab. Jetzt erst recht nicht.«
Alle murmelten zustimmend. Man mußte die gequälte Kreatur schützen. Am besten die, die man persönlich kannte.
Bremer setzte sich hastig auf, als es an der Haustür klopfte. Er war auf dem Sofa vor dem Kaminfeuer eingeschlafen – mit dem halbvollen Rotweinglas in der Hand. Dabei war es erst neun Uhr abends. Er schüttelte benommen den Kopf, stellte das Glas ab und ging zur Haustür. Marianne, sah er im Schein der Gartenlampe, hatte Tränenspuren im Gesicht.
»Ist was mit Willi? Die Highlander?«
Marianne schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Es ist Alfred.«
»Was ist mit Alfred?« Er wunderte sich. Wegen Alfred weinte man nicht.
»Er hat sich aufgehängt.« Marianne schluchzte los. »Wegen Rosi.«
Paul atmete geräuschvoll aus. Alfreds Frau Rosi war vor fast einem halben Jahr gestorben. Herzversagen, lautete die offizielle Version. Im Dorf vermutete man etwas anderes. Man hatte Rosi schreien hören in der Nacht vor ihrem Tod. Gottfried hatte irgend etwas von schlafenden Hunden gemurmelt, die man nicht wecken sollte, als er ihn darauf angesprochen hatte. Niemand mochte Alfred. Aber die Seinen verriet man nicht: Im Falle des Falles hielt das ganze Dorf dicht.
Er folgte Marianne durchs Gartentor auf die Hauptstraße. Rechter Hand, kurz bevor die Hauptstraße auf die Landstraße stieß, stand Alfreds Haus, ein mit grauen Eternitplatten verkleideter Fachwerkhof mit großer Scheune. Vor der Scheune stand das halbe Dorf.
»Der Krankenwagen kommt gleich.« Marianne schniefte noch immer.
»Und wie?« fragte Paul.
»Mit einer Wäscheleine. Am Mittelbalken in der alten Scheune. Man hat einen umgestürzten Stuhl gefunden, dort, wo er hängt.« Marianne schluckte. »Kevin und Carmen haben ihn gefunden.« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Niemand im Dorf traute Kevin und Carmen. »Sie haben wohl nach dem Hund gesucht. Behaupten sie jedenfalls.«
»Und wieso ›wegen Rosi‹?«
»Er war’s.« Marianne stellte das Weinen ein und hatte plötzlich vor Wut funkelnde Augen. Alle hatten Rosi gemocht, die liebe, runde, sanfte Rosi, die nie ein böses Wort über ihren Alfred gesagt hatte. Auch nicht, wenn er sie wieder einmal krankenhausreif geschlagen hatte.
»Woher weißt du das?«
»Ein Brief. Auf dem Küchentisch. Gottfried hat ihn gefunden.«
»Und?«
»Natürlich hat er sie wieder geschlagen. Deswegen ist sie umgefallen und hat sich den Kopf am Tisch aufgeschlagen. Nicht, weil sie einen Herzinfarkt hatte.«
»Überrascht dich das etwa?« Paul legte den Arm um Marianne. »Mich
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