Wasser zu Wein
nicht!«
»Er hat die Zeichen am Himmel gelesen, steht in dem Brief.« Marianne tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Deshalb wollte er Buße tun. Und es täte ihm leid wegen der Rosi.«
»Ziemlich späte Reue.«
Marianne nahm seinen Arm und drückte ihn. »Ich hatte sie gern.«
»Ich auch.«
Der Krankenwagen vom Malteser Hilfswerk bog um die Ecke. Paul kannte einen der beiden Sanitäter, Werner. Der hob grüßend die Hand und lief seinem Kollegen hinterher in die Scheune. Mit der zugedeckten Pritsche kamen die beiden Männer wieder heraus. Als Paul den Kopf wandte, sah er Kevin und Carmen, wie sie mit offenem Mund dem Abtransport ihrer ersten Leiche zusahen. Völlig hingerissen, dachte er. Die kleinen Monster.
9
Frankfurt am Main
Die letzte Verhandlung heute steckte Karen Stark in den Knochen. Du kannst doch nicht jedesmal vor Mitleid zerfließen, sagte sie sich auf dem Weg zurück vom Gerichtssaal in ihr Büro. Nur, weil es wieder einmal um das fundamentale Mißverhältnis ging: die Beziehung zwischen Männern und Frauen. Vorsichtshalber lächelte sie den Protokollführer an, der ihr entgegenkam und zu ihr herüberguckte. Hatte sie schon wieder Selbstgespräche geführt?
»Kann es sein, liebe Kollegin, daß Ihre Gefühle manchmal Ihre Urteilskraft ein bißchen, sagen wir mal: überlagern?« hatte vor einigen Tagen Staatsanwalt Manfred Wenzel gefragt, mit dem sie den Fall diskutiert hatte. Sie hatte ihm heftig widersprochen und ihn Scharfmacher genannt. Karen grinste in sich hinein. Sie stritt sich mit Wenzel leidenschaftlich und regelmäßig, seit er vor zwei Jahren aus Hamburg zur Staatsanwaltschaft Frankfurt versetzt worden war. Er hielt sie für sentimental, sie hielt ihn für einen arroganten Frauenfeind. Wahrscheinlich würde beiden ohne ihre ständigen Reibereien etwas fehlen.
Im Grunde gab sie bereitwillig zu, daß er in diesem Punkt nicht gänzlich danebenlag. Natürlich hatte sie eine angemessen lange Haftstrafe gefordert für die eine der beiden Frauen. Und eine weniger lange für die andere, die die Täterin nach der Tat gedeckt hatte. Aber sie konnte nicht leugnen, daß dieser Fall ihr nahegegangen war. Und daß solche Fälle ihr immer nahegehen würden. Und daß es sie Anstrengung gekostet hatte, nicht die Täterinnen zu verteidigen, sondern ihr Opfer – und dessen Recht auf Leben. Auch wenn das Opfer, solange es lebte, ein Täter gewesen war.
Ein Mann war zu Tode gekommen. Nach allem, was die Polizei in Erfahrung gebracht hatte, war das auf folgende Weise geschehen: Der 56jährige Frührentner war, in alkoholisiertem Zustand, eine Kellertreppe hinuntergefallen. Als er hilflos unten lag, hatte man ihm mit einem Hammer Schläge auf den Kopf versetzt. An einem der gut ein Dutzend Schläge war er gestorben. Tatverdächtige: die Ehefrau und die Tochter.
Zunächst schien der Fall klar: Die Ehefrau war geständig. Wenn man ihren eigenen Einlassungen und den Zeugenaussagen trauen konnte – »Natürlich kann man!« hatte Karen das professionelle Mißtrauen Wenzels zurückgewiesen –, dann hatte der Ehemann ihr sicher zwanzig Jahre lang das Leben zur Hölle gemacht. Er hatte sie geschlagen, sie vergewaltigt, sie gedemütigt, sie eingesperrt. Auch die Tochter hatte er regelmäßig verprügelt und bedroht – und sexuell mißbraucht? Es hatten sich während der Ermittlung keine Anhaltspunkte dafür ergeben. Hätte sie darauf mehr achten müssen? Hatte sie etwas versäumt? Karen Stark schüttelte den Kopf. Auch die Verteidigung hatte die Möglichkeit von Mißbrauch nicht zum Geltendmachen mildernder Umstände angeführt.
Die junge Frau war schon früh aus dem Haus der Eltern ausgezogen. Zum Tatzeitpunkt hatte sie ihre Mutter besucht. Zunächst hatte sie die Einlassungen der älteren Frau bestätigt. Im Zeugenstand aber war sie weinend zusammengebrochen. Nicht die Ehefrau hatte den Ehemann erschlagen, sondern die Tochter den Vater. Um die Mutter zu beschützen. Karen spürte, wie die Szene sie noch immer rührte. Die Frauen hatten sich geradezu verzweifelt voreinander gestellt. Die Mutter, weil ihre Tochter das Leben noch vor sich hatte. Die Tochter, weil sie ihr Leben in Freiheit nicht einer Lüge auf Kosten der Mutter verdanken wollte. Karen hatte Mitleid mit den Täterinnen – und nicht mit deren Opfer.
»Als Vertreterin der Strafverfolgungsbehörden haben Sie kriminelle Handlungen zu verfolgen. Ganz einfach – und wenn das Opfer hundertmal ein Verbrecher ist«, hatte Wenzel ihr
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