Wasser zu Wein
einem traurigen Grinsen. »Du hast verloren«, sagte er seinem Spiegelbild. Das guckte traurig zurück. So also sah ein Mann aus, der einmal alles hatte …
Noch vor einem Jahr hatte er ein florierendes Hotel mit hervorragendem Ruf gehabt, eine attraktive, zupackende Frau, die ihn genauso zu lieben schien wie er sie. Und Tine. Mehr brauchte er nicht für sein Glück. Und heute? Heute stand alles auf dem Spiel.
Klar ließ Wasser in das Waschbecken laufen. Er hatte sich sein Glück hart erkämpft. Daß es Elisabeth war, die er wollte, hatte er immer gewußt – fast immer, jedenfalls. Von kleinen Irrtümern abgesehen. Schon, seit sie siebzehn war. Elisabeth Magnus, Tochter einer alteingesessenen Winzerfamilie, eine zarte Person mit dunklen Locken, großem Selbstbewußtsein und unberechenbarem Temperament. Sie hatte ihn monatelang am ausgestreckten Arm verhungern lassen. War statt dessen mit August M. Panitz ausgegangen, dann mit dem jüngeren der beiden Bessenauers. Sogar Chevaillier hatte mit ihr ins Kino gehen dürfen. Aber er hatte sie alle überdauert. Und zum Schluß sogar den Widerstand der Eltern überwunden, die eigentlich eine bessere Partie gewollt hatten für die einzige Tochter. Etwas Besseres als einen jungen Mann mit eisernem Willen, immensem Ehrgeiz, einem maroden elterlichen Erbe und wenig Geld.
Als die ersten harten Jahre hinter ihnen lagen, in denen beide zwanzig Stunden am Tag daran arbeiteten, der »Traube« einen Ruf zu erobern, den sie nie, nie wieder verlieren sollte, wenn es nach ihm ging – nach der schwierigen Anfangszeit schien ihr Glück komplett. Als Tine kam. Er merkte, wie ihm die Kehle eng wurde beim Gedanken an ihr Gesicht mit den riesigen, immer fragenden Augen, an ihre dünnen, braunen, immer zappeligen Arme und Beine, an die weiche Haut in ihrem Nacken, auf den er sie küßte, wenn sie sich dazu herabließ, mit ihm zu schmusen. Sein Kind, seine Elfe, die ihn um den Finger wickeln konnte, wenn ihr danach war. Er drückte Zahnpasta auf die elektrische Zahnbürste und schaltete sie an.
Er war wie versteinert gewesen, damals, nach Bettines Tod. Hatte sich nur immer wieder gesagt, daß das Leben weitergehen müsse, Jeden Tag weitergehen müsse. Auch ohne sie weitergehen müsse. Elisabeth hatte tagelang geweint und sich die absurdesten Vorwürfe gemacht. Und während für ihn der Schmerz wie von selbst langsam ferner gerückt war, jeden Tag ein bißchen ferner, war der ihre angewachsen, hatte sich aufgebläht, hatte ihre Person verschlungen, hatte das ganze Leben verdüstert.
Die Therapie, auf die sie sich auf Anraten des Arztes eingelassen hatte, half auch nichts. Im Gegenteil. Erst hatte er die Therapeutin sympathisch gefunden – und das, was sie vorschlug, logisch. Er spülte die Zahnbürste aus und steckte sie zurück in den Halter. »Hilfe bei der Trauerarbeit«, hatte sie ihr Konzept genannt. Eigentlich mochte er solche Begriffe nicht. Man trauerte. Es tat weh. Es schmerzte. Aber »Trauerarbeit«? Trotzdem hatte er Elisabeth überredet hinzugehen.
»Sie müssen den Schmerz zulassen«, hatte die Frau empfohlen. »Sie müssen den Schmerz annehmen«, hatte sie gesagt. »Ihn anerkennen. Ihn durcharbeiten. Und ihn dann gehen lassen.« Aber Elisabeth hatte ihn nicht gehen lassen – im Gegenteil: Sie hatte ihn gehätschelt. Und seit einiger Zeit entwickelte sie höchst eigenartige Theorien über das, was ihrer Meinung nach an der Wurzel des Übels – allen Übels – lag.
Irgendwann einmal hatte Elisabeth begonnen, sich weit mehr für die Täterin zu interessieren als für deren Opfer. Für die Frau, die es fertiggebracht hatte, in einer fast vollen Kirche zu Pfingsten zwei Handgranaten zu zünden. Die es fertiggebracht hatte, fünf Menschen auf ihren Selbstmordtrip mitzunehmen. Auch ein unschuldiges kleines Mädchen, das niemandem etwas zuleide getan hatte. Auch Bettine.
Ein Opfer sei sie gewesen, hatte Elisabeth plötzlich behauptet – ein Opfer, keine Täterin. Sebastian hatte ihr damals spöttisch entgegnet, nicht an allem sei die Kinderstube schuld. Aber das meinte sie natürlich nicht. Sie meinte die üblichen Verdächtigen: die Männer. Wen sonst? »Und jetzt wirst du mir auch noch erzählen, sie sei mißbraucht worden!« hatte er damals gesagt. Mißbrauch! Das hatten ja heutzutage fast alle Frauen vorzuweisen. Sebastian verzog den Mund. Eine Modesache. Elisabeth hatte ihn damals lange und dunkel angesehen und nichts gesagt.
Mißbrauch. Der Gedanke löste plötzlich ein
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