Wasser zu Wein
eine Standuhr, die leider nicht mehr zu reparieren war. Alle Betten waren natürlich auf dem neuesten Stand des Komforts, aber auch dafür hatte sie sich etwas einfallen lassen: Über dem einen Bett hing ein samtener Baldachin, über dem anderen ein einfaches Segel aus bedrucktem Stoff. Im nächsten Zimmer schlief man hinter einem Vorhang aus weißem bestickten Leinen.
Alle Zimmertüren standen offen heute mittag, wie immer, wenn die Zimmermädchen ihre Arbeit getan hatten. Ein Windhauch strich durch den langen Flur. Es war gut, wenn hier mal Luft hineinkam. Elisabeth ging in das Erkerzimmer, das von der Lotte bewohnt hatte, gefolgt von Mönch, der seine Nase neugierig in alle Ecken steckte. Sie kontrollierte, ob frische weiße Handtücher im Bad hingen, und kippte das Fenster. Sie war froh, daß der Kerl verschwunden war. Sie hatte ihn nie gemocht: seine abgestandene Höflichkeit, sein falsches Lächeln. Und seine ewigen Belehrungen. Fast hätte sie die Katze eingeklemmt, als sie heftiger als nötig die Tür hinter sich schloß.
Sie hatte das Haus geliebt, dachte sie und ging ins nächste Zimmer. Und wie oft waren Bettine und sie gemeinsam die Zimmer abgegangen! Für die Kleine war das Hotel ein verwunschenes Schloß gewesen, mit Wundern überall. Sie zog den schweren Vorhang vor das Fenster, damit die Frühjahrssonne das Zimmer nicht allzusehr aufwärmte, und schaute nach, ob in der Karaffe, die auf der Kommode stand, noch genug Sherry war. Auch das war eine ihrer Ideen gewesen: den Gästen etwas anzubieten, das ihnen das Gefühl gab, zu Hause und willkommen zu sein. Auf solche Ideen war sie einmal stolz gewesen. Und ihre Gäste fanden solche Kleinigkeiten noch heute schön. Nur sie, nur sie allein fühlte sich hier nicht mehr zu Hause.
Plötzlich wurde ihr schwach. Sie griff mit der Hand hinter sich, bis sie die Bettkante fühlte, und ließ sich aufs Bett sinken.
Warum hatte sie das Kind alleingelassen? Warum hatte sie das Kind an diesem Wochenende weggegeben? Warum war ihr und Sebastian die große Raritätenweinprobe damals wichtiger gewesen als ihr Kind? Warum war Agata in der Kirche gewesen? Warum war sie nicht in die Frühmesse gegangen? Warum hatte sie überhaupt das Kind zum Hochamt mitgeschleppt? Und warum nur hatte sich Bettine nach vorne gesetzt? Warumwarumwarumwarum?
Sie verscheuchte den schwarzweißen Kater, der ihr mit einem Satz auf den Schoß gesprungen war, atmete tief durch und stand wieder auf. Dann ging sie in die Knie und guckte unter das Bett. Sie hatte schon Kondome, gebrauchte Tampons und Unterwäsche unter den Betten gefunden. Zimmermädchen mieden diesen Bereich – das sah man meistens schon am Staub. Heute – nichts. Noch immer hatte sie ihr Personal im Griff, dachte Elisabeth. Nur sich selbst nicht mehr.
Sie erhob sich wieder, schaute noch einmal prüfend umher, rief nach Mönch, der ausgelassen angaloppiert kam, und schloß die Zimmertür leise hinter sich. Sie liebte ihre mittägliche Routine schon lange nicht mehr. Denn ihr Kopf nutzte den Kontrollgang durch die »Traube«, um immer und immer wieder den gleichen Gedanken kreisen zu lassen. Warumwarumwarumwarum.
Sie brauchte eine Antwort auf dieses ewige Warum. Eine einfache und klare und gute Antwort. Sie ging in den nächsten Raum, den, wo das Bett einen Baldachin hatte. Und das Licht durch ein Fenster aus farbigem Glas fiel. Warum hatte Eva das getan? Zuerst hatte sie sie gehaßt. Hatte ihren zerstückelten Leichnam aus dem Grab zerren wollen, um ihre sterblichen Überreste ein weiteres Mal zu zerfetzen. Mit den Händen. Mit den Fingernägeln. Aber je mehr sie über alles nachdachte, desto weniger konnte sie zornig sein. Desto mehr mußte sie verstehen, mußte sie verstehen.
In einer Woche war wieder Pfingsten. Wieder wurde ihr schwindelig. Sie lehnte die Stirn an das Fenster mit dem bunten Glas und verspürte den drängenden Wunsch, mit dem schmerzenden Kopf durch die Scheiben zu fahren und irgendwo weit unten aufzuschlagen, um niemals mehr Warumwarumwarum zu denken.
Warum hast du das getan, Eva? Und warum hast du nicht die Richtigen mitgenommen? Die wirklich Schuldigen?
Elisabeth merkte, wie ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen. Sie hatte hin und her gerechnet. Aber sie kam immer zum gleichen Ergebnis. Etwa um dieselbe Zeit, als Bettine ihren letzten Atemzug tat, war sie noch im Bett gewesen, ach was: hatte sie stöhnend in Sebastians Armen gelegen. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Der Gedanke bereitete ihr
Weitere Kostenlose Bücher