Wasser zu Wein
»Stärkung« zu sich zu nehmen, lehnte Kosinski dreimal mit gleichbleibender Höflichkeit ab.
»Wir ermitteln noch, gnädige Frau«, sagte er. Und: »Wir sind zu keinerlei Auskünften ermächtigt!« Das steife Bürokratendeutsch erregte die alte Dame noch mehr. Es schien ihr klar zu machen, daß etwas wirklich Ernsthaftes passiert war. Mit leicht geöffnetem Mund und großen wasserblauen Augen im schmalen Vogelgesicht starrte sie ihnen hinterher, als die beiden Polizisten das Haus verließen.
»Sie sind alle so verdammt einsam in der Stadt, die Menschen«, sagte Michael neben ihm. Kosinski sah ihn verwundert an.
»Wie geht’s Marlene?« fragte er vollautomatisch. War wohl die falsche Frage, dachte er, als er Michaels Gesicht sah.
Plötzlich sehnte er sich nach Beate und nach einem guten, alten, intakten Familienleben. Dafür würde er sogar freiwillig und auf ewig Theas »Pappilein« bleiben.
12
Wingarten am Rhein
Bremer erwachte von einem Donnerschlag. Durchs Fenster sah er eine dichte graue Regenwand niedergehen. Schade. Das milde Frühlingswetter war vorbei. Und jetzt begann auch noch ein Hagelschauer gegen das Fenster zu trommeln. So fing kein gutes Weinjahr an. Vor zwei Jahren hatte Frost im Mai die Traubenblüte in weiten Teilen des Landes zerstört. Im letzten Jahr hatte es im heißen Sommer Trockenschäden gegeben. Der Weinbau war weiß der Himmel ein riskantes Geschäft.
Beim Frühstück mit Karen war er wortkarg – aber auch sie hatte sich hinter der Zeitung verkrochen und zeigte wenig Lust auf ein Gespräch.
»Kommst du mit zu Wallenstein?« fragte er nach dem zweiten Brötchen.
»Ja«, sagte sie, ohne hinter der Zeitung hervorzukommen.
Auch in Frieder Wallensteins Wohnzimmer herrschte gedämpfte Stimmung. Im Sessel am Fenster, neben Wallenstein im Rollstuhl, saß Hannes Janz, die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt, das Kinn auf die rechte Faust gelegt. Bremer sah bestürzt, wie müde Wallenstein aussah.
»Ungemütlich draußen, oder?« sagte der mit Blick auf Pauls nasse Schuhe und Karens verstrubbelte Haare. Der Regenschirm hatte gegen die feuchten Windstöße wenig ausrichten können. »Hoffentlich kriegen wir nicht schon wieder eins auf die Nase. Wir könnten ein gutes Weinjahr gebrauchen.«
»Das kann man wohl sagen«, brummte Hannes Janz.
»Und was machen die Winzer nach mehreren schlechten Jahren hintereinander?« Karen hatte sich auf einen der drei steifen, mit Leder bezogenen Stühle gesetzt und die Krücken zwischen die Knie geklemmt.
Janz räusperte sich. »Die Kleinen geben auf. Die Großen kriegen Kredit.«
»Und die Desperados gehen in den Keller und lassen sich etwas einfallen«, kommentierte Paul.
Janz ließ die Hände zwischen den Knien baumeln und senkte den Kopf. »Soll vorgekommen sein.«
Alle schwiegen. Nach einer Weile seufzte Frieder Wallenstein so tief auf, daß der alte Hund, der unter dem Fenster auf einer Decke geschlafen hatte, den Kopf hob, die Ohren spitzte, sich hochrappelte und zu seinem Herrchen lief. Wallenstein strich dem Tier geistesabwesend über Schnauze und Stirn.
»Warum will niemand an Eva erinnert werden?« fragte Karen in die Stille hinein, mit einer Stimme, die Bremer plötzlich unerträglich laut vorkam.
»Karen!«
Sie streckte ihm abwehrend die Hand entgegen. »Was ist es, das alle fürchten?«
Wallenstein seufzte wieder. »Schuldgefühle«, sagte er. »Vielleicht haben wir uns alle – an ihr vergangen.«
Bremer schüttelte ungläubig den Kopf. Wallenstein? Auch Janz sah den alten Mann besorgt an. Nur Karen guckte interessiert und abwartend. Sie sind doch alle gleich, dachte Bremer plötzlich ungewohnt bitter, unsere Strafverfolger. Wie die Geier – immer im Dienst.
»Ich erinnere mich noch genau an den Tag«, sagte der alte Mann. »Ich war seit fünf Uhr früh im Wingert gewesen. Es muß um diese Jahreszeit gewesen sein. Kurz vor Pfingsten.«
Wallenstein verstummte. Alle warteten. Paul rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und war fast dankbar, als das leise Winseln von Zigeuner die Stille durchbrach. Der Hund guckte mit angelegten Ohren zu seinem Herrchen hoch und bewegte fragend seine auf Halbmast gesenkte Rute.
»Es waren Pfingstferien – deshalb war Evchen in den Wingert gekommen. Acht, neun Jahre mochte sie damals gewesen sein. Ein aufgewecktes Kind. Ganz stolz darauf, daß sie schon alleine zur Schule gehen konnte.«
Wieder verstummte Wallenstein. Hannes Janz hatte das Gesicht in die Hände
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