Wassermanns Zorn (German Edition)
folgenden Worte:
«Es tut mir leid, weil ich eigentlich nicht die Kundin, sondern Sie beleidigen wollte, Frau Kropf. Aber ich bin gern bereit, den Fehler wiedergutzumachen: Sie sind eine frigide Kuh mit einem Besenstiel im Arsch und können mich mal. Schönen Tag noch.»
5
Hauptkommissar Stifflers Gesicht sah genauso miesepetrig aus wie gestern Abend, war aber noch eine Spur zerknautschter, so als hätte er die Nacht auf der Couch verbracht. Er strahlte wirklich keine gute Laune aus, als er über den Gang auf Manuela zukam. Sie stieß sich von der Wand ab, an der sie seit zehn Minuten auf ihren neuen Chef gewartet hatte, und nahm sich vor, sich ihre eigene Stimmung nicht verderben zu lassen. Sie war ausgeschlafen und fühlte sich gut, hatte wie beinahe jeden Morgen ihren Sechs-Kilometer-Lauf hinter sich und war nun ganz wild darauf, diesen Fall anzugehen.
Stiffler sah auf, entdeckte sie, und auch wenn es nur eine feine Nuance war, bemerkte Manuela doch, wie seine Mimik noch ein bisschen mehr abrutschte. Sie hatte einen Blick für diese Feinheiten. War das Abscheu, was sie hatte aufblitzen sehen? Oder doch nur frühmorgendliche Gereiztheit?
«Guten Morgen», begrüßte sie ihn mit betont fröhlicher Stimme. «Wie war das Gespräch mit dem Chef?»
Manuela war rechtzeitig im Büro gewesen, sie hätte mitgehen können, aber Stiffler hatte nicht gewollt, dass sie ihn begleitete.
«Kurz, knapp und zielorientiert», sagte Stiffler, drängte sich an ihr vorbei und öffnete die Tür zu seinem Büro.
Zwar lud er sie nicht ein, ihm zu folgen, aber Manuela tat es trotzdem.
«Vielleicht sollten wir …», begann sie, aber Stiffler hatte nur seine Dienstwaffe aus einer abschließbaren Schublade genommen und schob sie bereits wieder vor sich her aus dem Büro.
«Jetzt gehen wir erst einmal rüber in die Gerichtsmedizin. Leichenschau. Da können Sie gern mitkommen.»
Stiffler war zwei Köpfe größer als Manuela und hatte dementsprechend längere Beine, mit denen er weit ausschritt. Sie hatte ein wenig Mühe, ihm zu folgen. Während sie durchs Präsidium eilten, fiel ihr auf, wie abgemagert ihr Chef aussah. Seine Beine waren wie Streichhölzer, und an seinem mageren Hintern schlotterte eine abgewetzte Jeans, die gut und gerne zwei Nummern kleiner hätte sein können. Die braune Wildlederjacke hing von seinen Schultern wie eine Sesselhusse über einem Stuhl.
Es fiel Manuela schwer, sich ihn als den genialen Ermittler vorzustellen, den Polizeichef Bender gern beschrieben hatte. Zehn Jahre waren natürlich eine lange Zeit. Da konnte allerhand passieren, was einen Menschen veränderte. Aber sie durfte auch nicht den Fehler machen, ihn nach Äußerlichkeiten zu beurteilen. Ob dünn oder dick, in modischer Kleidung oder alten Sachen, was sagte das schon über seinen Verstand aus? Der konnte trotzdem messerscharf sein.
Die Gerichtsmedizin lag in dem vor zwei Jahren neu gebauten Trakt des Präsidiums. Dorthin gelangte man durch einen gläsernen Tunnel, der zwei Meter über dem Boden schwebte. Schon am Vormittag war es darin unerträglich heiß. Stiffler legte noch an Tempo zu, sodass Manuela fast schon laufen musste, um nicht den Anschluss zu verlieren.
«Haben wir es sehr eilig?», rief sie ihm hinterher.
«Haben wir, ja.»
Als sie das andere Ende der Röhre erreichten, hatte er ein Einsehen mit ihr und wartete.
«Die Gerichtsmedizinerin hat mich angerufen, während ich bei Bender war», klärte er sie auf. «Etwas stimmt nicht mit der Leiche.»
«Und was stimmt nicht?», fragte Manuela und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.
«Das werden wir gleich erfahren.»
Sie erreichten den geschlossenen Bereich der Rechtsmedizin. Stiffler gab seinen Berechtigungscode in das Zahlenfeld neben der Tür ein, und nach einem dezenten Summton wurden sie eingelassen. Hinter der Tür lag eine andere Welt. Alles war hier hell, weiß, klinisch, und ein ganz spezieller Geruch lag in der klimatisierten Luft. Irgendwie unpassend, aber sehr interessant erschienen Manuela die im Makrobereich fotografierten Insekten hinter Glasbilderträgern entlang der Wände. Sie sah Marienkäfer, Heuschrecken, Ameisen und Bienen. Alle in knalligen Farben und mit beeindruckenden Details.
Dr. Nina Vossfeld, die Leiterin der Abteilung, kam ihnen entgegen. Sie war eine große, schlanke Frau mit langem, braunem, zu einem Pferdeschwanz gebundenem Haar, hohen Wangenknochen und einer spitzen Nase. Sie wirkte kühl und professionell auf Manuela, bis sie ihr
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