Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wassermanns Zorn (German Edition)

Wassermanns Zorn (German Edition)

Titel: Wassermanns Zorn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
Vom Netzwerk:
doch drauf», sagte die Dicke, ließ das Shirt vor der Kasse zu Boden fallen und trat auch noch darauf, als sie sich auf den Weg zum Ausgang machte.
    «Die Streifen hätten Sie nur noch fetter gemacht.»
    Die Worte waren heraus, bevor Lavinia darüber nachdenken konnte. Schon in der nächsten Sekunde bereute sie sie, aber da war es zu spät. Sie hatte laut gesprochen, und die Dicke hatte jedes Wort verstanden. Sie kam noch einmal zurück und baute sich vor Lavinia auf.
    «Was hast du da gesagt, Schätzchen?»
    Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen zwischen wulstigem Gewebe geschrumpft, und sie stemmte die Arme in die Taille.
    «Du kleine Nutte», sagte sie. «Glaubst wohl, nur weil du einen kleinen Arsch hast, kannst du dir ein Urteil über mich erlauben, was?»
    Nutte. Das war zu viel. Lavinia platzte endgültig der Kragen. Sie kam hinter der schützenden Burg hervor, die ihre Kasse darstellte, hob das blaue Ringelshirt auf und hielt es der Dicken vor die Nase.
    «Für dieses Shirt hat ein minderjähriges Kind irgendwo in Bangladesch stundenlang geschuftet. Nach einem Zehnstundentag schläft es in einer Holzbaracke ohne fließend Wasser auf dem Boden, bevor es zurückmuss in die Fabrik, genau wie seine Schwestern, Brüder und Eltern, die ebenfalls in dieser Hütte auf dem Boden schlafen. Und Sie sind nicht einmal bereit, drei Euro neunundneunzig dafür zu bezahlen. Prima! Bekommt das Kind eben ab heute gar keinen Lohn mehr. Warum sollte es auch etwas essen? Es reicht ja, wenn Sie fett sind.»
    Im Laden herrschte Totenstille. Alle Blicke waren auf das ungleiche Paar an der Kasse gerichtet.
    Die Farbe im Gesicht der Dicken wechselte im Sekundentakt von Weiß zu Rot zu Violett. Ihre schmalen Lippen begannen zu zittern, ob aus Wut oder Scham. Bevor die Frau dazu kam, etwas zu erwidern oder auf sie loszugehen, warf Lavi ihr das Shirt vor die Brust, drehte sich um, marschierte in den hinteren Bereich des Ladens und verschwand durch eine Tür in den schäbigen Aufenthaltsraum für die Mitarbeiterinnen.
    Darin stank es nach dem Mülleimer, der seit Tagen nicht geleert worden war.
    Lavinia stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab, ließ den Kopf auf die Brust sinken und atmete langsam ein und aus.
    Das war’s , dachte sie, den Job kannst du vergessen.
    Aber war das wirklich so schlimm? Wie weit konnte ein Mensch sich erniedrigen, bevor etwas in ihm zerbrach, das niemals wieder heilen würde?
    Sehr weit, wie Lavinia wusste, aber ihre Grenze war jetzt erreicht.
    Hinter ihr ging die Tür auf und wurde wieder geschlossen. Schon daran erkannte sie, wer ihr gefolgt war.
    «Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?», fragte Frau Kropf, wie immer mit leiser, aber messerscharfer Stimme.
    Es hatte Nächte gegeben, in denen Lavi diese Stimme in ihren Träumen gehört hatte, obwohl sie sich geschworen hatte, diese Frau nicht an sich heranzulassen. Doch ihre Stimme war wie eine minimalinvasive Operation: Man spürte nichts, aber sie war schon drin.
    «Die Kundin hat mich beleidigt», sagte Lavinia, ohne sich umzudrehen.
    Sie schwankte noch. Sollte sie versuchen, den Job zu retten, oder jetzt gleich auch noch mit der Kropf abrechnen.
    «Sie hat Sie beleidigt.»
    Das klang wie Sie kann man beleidigen? , und zwar so deutlich, dass Lavinia mit einem Ruck herumfuhr und die Kropf anstarrte. Die Filialleiterin wich zurück.
    «Ich muss mich von Kunden nicht beleidigen lassen, nicht für den Hungerlohn, den ich hier bekomme.»
    «Nein, müssen Sie nicht. Sie müssen nicht einmal mehr hier arbeiten, Frau Wolff. Denn jemand wie Sie ist für unser Haus nicht länger tragbar.»
    Unser Haus klang aus dem Mund der Kropf, als spräche sie von einer edlen Luxusboutique und nicht vom billigsten und schäbigsten Laden in der ganzen Stadt.
    «Darf ich wenigstens etwas zu meiner Verteidigung sagen?»
    «Dürfen Sie, auch wenn es nichts ändert.»
    Lavinia ließ die Schultern sinken, nahm das Kinn zurück und verfiel in eine demütige Haltung. Schon sah sie Genugtuung aufblitzen in den Augen der Kropf.
    «Ich … ich wollte die Kundin nicht beleidigen, wirklich nicht, das müssen Sie mir glauben, und es tut mir leid.»
    «Tja, dass hätten Sie sich vorher überlegen sollen. Zusammen mit der vorgeschobenen Erkrankung und Ihrem launischen Verhalten überhaupt reicht es mir jetzt. Sie sind entlassen. Fristlos.»
    Jetzt streckte Lavinia den Rücken durch, straffte die Schultern und legte all ihre Kraft in ein freundliches Lächeln und die

Weitere Kostenlose Bücher