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Wassermanns Zorn (German Edition)

Wassermanns Zorn (German Edition)

Titel: Wassermanns Zorn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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würde er lange genug durchhalten. Er würde kein Wasser atmen.
Das alles ging ihm durch den Kopf, während er an der vorderen Kante des Stegs stand, eine Hand an der Stirn, um die Sonne abzuschirmen, den Blick auf die glitzernde Wasseroberfläche gerichtet.
In diesem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr er seine kleine Schwester liebte. Sie konnte ja nichts dafür. Sie war der kleine Delfin der Familie, von allen geliebt und vergöttert. Sie war süß und nett, und jeder, der sie sah, konnte nicht anders, als ihr übers Haar zu streichen und zu sagen, was sie doch für ein hübsches Mädchen sei.
Sie konnte ja nichts dafür.
Manchmal tauchte sie für so lange Zeit unter, dass ihm der Schweiß ausbrach und er drauf und dran war, ins Wasser zu springen. Aber dann tauchte sie doch wieder auf, prustete und lachte, winkte ihm zu, als sei nichts gewesen. Entweder spürte sie seine Ängste nicht, oder es war ihr egal. Sollte ihr je etwas passieren, solange er die Aufsicht hatte, würden seine Eltern ihm das nie verzeihen. Während sie in den Sommermonaten ihrem Geschäft nachgingen, das sie hierhergeführt hatte, verließen sie sich darauf, dass er auf seine kleine Schwester aufpasste. Er tat das, so gut er konnte, aber natürlich hörte sie nicht so auf ihn, wie sie es sollte.
Dauernd stand er ihretwegen Höllenängste aus. Dann klammerte er sich mit den Zehen an die trockene, rissige Kante des Stegs und bereitete sich auf den Absprung vor. Er hielt minutenlang den Atem an, immer länger und länger, damit er irgendwann in der Lage sein würde, lange genug tauchen zu können, um sie zu retten.
Er wusste, dieser Tag würde kommen.
Siiri war viel zu unbedarft, viel zu frei von Ängsten.
Die Ängste waren alle in ihm.
    Das alles sah er in der Tasse Kakao, die vor ihm auf der Tischplatte stand. Allein der Geruch von warmem Kakao löste Erinnerungen in ihm aus, dagegen konnte er nichts tun – und wollte es auch gar nicht.
    Er hob den Blick und sah zur Theke hinüber, hinter der die Bedienung damit beschäftigt war, Brötchen zu belegen. Bestimmt hatte sie ihn beobachtet, diese neugierige Person, während er minutenlang in seine Tasse gestarrt hatte.
    Er war in die Stadt gefahren, um sie zu beobachten, aber auch, um Eric Stiffler anzurufen. Draußen vom See aus ging es wegen der Handyortung nicht. Und weil er ausreichend Zeit hatte, hatte er sich in das kleine Café gegenüber dem Laden gesetzt, in dem sie arbeitete. Obwohl er das Café nicht mochte, war er schon ein paar Mal hier gewesen. Die Bedienung war neugierig, die Tische waren klebrig, aber der Kakao war gut, und außerdem bot ihm der Platz an der Fensterfront einen Blick auf den Laden. Es war wichtig, ihren Tagesablauf zu kennen, zu jeder Zeit zu wissen, wo sie sich …
    Erschrocken ruckte sein Kopf hoch.
    Was war das?
    Sie verließ das Geschäft. Sie ging nicht, sie rannte, und als sie die Straße überquert hatte und sich der Fensterfront des Cafés näherte, sah er Tränen in ihren Augen. Ihr Gesicht war verzerrt, vor Wut verzerrt. Sie war so wütend, dass sie nichts wahrnahm, auch ihn nicht, obwohl für einen kurzen Moment nur die Glasscheibe und vielleicht ein halber Meter Abstand sie voneinander trennte.
    Er blieb still sitzen, zuckte nicht zurück, versuchte nicht, sich vor ihr zu verbergen. Erst als sie vorbeigerannt war, sprang er von seinem Platz auf und verließ das Café, ohne den Kakao ausgetrunken zu haben. Bezahlt hatte er schon, als die Bedienung ihm das Getränk gebracht hatte.
    Als er aus der Tür trat, sah er sie mit schnellen Schritten den Bürgersteig hinunterlaufen. Sofort heftete er sich an ihre Fersen. Sie lief direkt in die Fußgängerzone, wo das Gedränge dichter wurde, doch er hatte keine Angst, sie zu verlieren. Sie war durch ihre Größe, ihre Figur und ihr leuchtend blondes Haar eine auffällige Erscheinung.
    Während er ihr folgte, rasten seine Gedanken.
    Sie wich von ihrer Routine ab.
    Warum tat sie das? Warum verließ sie lange vor der Mittagspause ihren Arbeitsplatz, und warum war sie so erregt? War er vielleicht selbst schuld daran? Hatte er sie gestern doch aufgeschreckt? War sie deshalb in ein Taxi gestiegen? Es ärgerte ihn, dass er den Namen des Fahrers nicht herausgefunden hatte. Er musste alles von ihr wissen, um Überraschungen zu vermeiden. Sie war lange bei ihm im Wagen geblieben, und der Fahrer hatte auffällig lange vor ihrem Haus gewartet.
    Wenn er herausfinden wollte, was hier vor sich ging, blieb ihm nichts anderes

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