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Wassermanns Zorn (German Edition)

Wassermanns Zorn (German Edition)

Titel: Wassermanns Zorn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht und durch sein langes, dünnes Haar.
    Denk nach, denk nach, denk nach …
    Schließlich fällte er eine Entscheidung und machte sich mit langen Schritten auf den Weg.

2
    Die alte Angst tauchte auf wie eine Hand aus dunklem Wasser, packte sie und riss sie aus der Realität zurück in den Albtraum, den sie nie vergessen hatte und der offenbar längst noch nicht zu Ende war. Augenblicklich brach ihr kalter Schweiß aus.
    Lavinia Wolff sah in der Schaufensterscheibe nur das weichgezeichnete Spiegelbild einer schlanken Frau Mitte zwanzig, fast schon zu dünn, die Hüften knabenhaft, der Busen nicht der Rede wert. Das blond gefärbte Haar fiel ihr sanft auf die Schultern.
    Ein Blinzeln wechselte die Perspektive. Lavinia konzentrierte sich und beobachtete ihre Umgebung im Fensterglas. Die Auslage dahinter störte. Sie stand vor einem auf Krimis und Thriller spezialisierten Buchladen. Auf blutrotem Tuch lagen die Bestseller aus dem Genre.
    Zorn. Hass. Tod. Wut. Terror.
    Die einzelnen Worte auf den Buchdeckeln drangen wie Gewehrfeuer in ihren Kopf. Angst wurde zu Panik. Lavinia begann am Nagel ihres rechten Zeigefingers zu kauen, wie sie es immer tat, wenn sie sich sehr unwohl fühlte. Es half, die Panik niederzuringen. Sie durfte es auf keinen Fall so weit kommen lassen.
    Hatte er sie gefunden?
    Oder erlag sie nur wieder einem dieser Anfälle, die sie in schöner Regelmäßigkeit heimsuchten? Sie wusste, dass sie paranoide Züge entwickelt hatte seit damals, aber das hatte nichts mit dem zu tun, was sie gerade fühlte.
    Dabei war heute früh um acht, zum Schichtbeginn, noch alles in Ordnung gewesen – sah man davon ab, dass sie sich wieder einmal nur mühsam zu ihrem Arbeitsplatz beim Bekleidungsdiscounter geschleppt hatte. Die beschissene Bezahlung und der Gestank nach Plastik und Chemikalien in den billigen Klamotten konnte sie gerade noch ertragen. Nicht aber die neue Filialleiterin, die sie jeden Tag drangsalierte. Lavinia wäre spielend mit Frau Kropf fertiggeworden, wenn sie den Job nicht so dringend bräuchte. Sich jemandem unterzuordnen, dem sie eigentlich überlegen war, war so sehr gegen ihre Natur, dass es ihr körperliche Schmerzen verursachte.
    Während der Acht-Stunden-Schicht hatte sie nichts bemerkt. Wie jeden Tag in den letzten zwei Jahren waren die Kunden wie eine graue Masse an ihr vorübergezogen. Aber kaum hatte sie gegen siebzehn Uhr die Filiale verlassen, hatte sie sofort das Gefühl gehabt, beobachtet und verfolgt zu werden.
    Früher hatte Lavinia nie an ihren Instinkten gezweifelt, aber nachdem sie sie bereits ein paar Mal getrogen hatten, war sie vorsichtiger geworden. Sie wollte nur zu gern glauben, wieder einer Täuschung zu erliegen, doch da gab es so etwas wie eine Stimme in den Tiefen ihres Kopfes, und die sprach die Wahrheit aus.
    Er ist wieder da … Er ist wieder da …, flüsterte sie … Und diesmal wird er dich ertränken.
    Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und wandte sich mit einem Ruck von dem Schaufenster ab.
    Und dann sah sie ihn.
    Ungefähr fünfzig Meter die Straße hinunter stand er unter der ausgefahrenen dunkelgrünen Markise eines türkischen Gemüsehändlers. Er stand neben den mit Melonen vollbeladenen Körben ganz dicht an der Hauswand, wo der Schatten undurchdringlich war, und Lavinia konnte weder sein Gesicht noch seine Augen sehen. Aber sie wusste, dass er sie anstarrte.
    Er war es, ganz sicher.
    Lavinia starrte zurück. Sie war unfähig, sich zu bewegen.
    Die warme Luft über dem sonnenheißen Pflaster begann zu flirren und zu schwimmen, so als verwandele sich der feste Boden in Wasser. Alles, was sich jenseits dieses Sees befand, geriet in geisterhafte Bewegung.
    Schwindel erfasste Lavinia, Erinnerungsbilder schossen an ihren Augen vorbei. Ein See. Ein Kopf, der durch die Oberfläche brach. Ein zersprungener Glasbilderrahmen auf dem Flur. Aufgefächertes Haar in blutrotem Wasser. Sie schüttelte den Kopf, zwang ihren Blick zu Boden, um die Bilder loszuwerden, und als sie wieder aufsah, war die Gestalt unter der grünen Markise verschwunden.
    Er schleicht sich an! Mach, dass du fortkommst!, schrie es in ihr.
    Hektisch sah Lavinia sich um, konnte aber niemanden in der Nähe entdecken. Trotzdem wurde die Angst immer größer. Sie packte ihre Handtasche fester, wandte sich nachts rechts und lief die Fußgängerzone hinunter. Die harten Absätze ihrer Stiefel klapperten geradezu ohrenbetäubend, sie zog Blicke auf sich,

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