Wassermanns Zorn (German Edition)
Säulen, stellenweise schienen ihn nur noch die Graffitischmierereien zusammenzuhalten. Der schmale Vorgarten diente als Stellplatz für drei hässliche Müllcontainer und eine Herde altersschwacher Fahrräder, von denen die meisten umgekippt waren. Sechs Satellitenschüsseln weinten rostige Tränen und verunstalteten die Front zusätzlich. Seit geraumer Zeit war die Stadt im Besitz des Hauses und vermietete die Wohnungen darin. Wegen der zentralen Lage waren sie beliebt, aber da hinter dem Haus eine Schule lag, war es bisher nicht gelungen, einen solventen Käufer für das Haus zu finden.
Eric Stiffler stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete das Haus aus dem Schatten einer mit unzähligen dummen Sprüchen beschmierten Bushaltestelle heraus. In zehn Minuten würde der nächste Bus halten. Wollte er keine Aufmerksamkeit erregen, musste er bis dahin verschwunden sein.
Er hatte sich entschieden, die Sache erst einmal allein zu überprüfen. Vielleicht wollte ihm der Anrufer ja nur einen Streich spielen, ihn dazu treiben, den ganzen Apparat in Gang zu setzen und sich selbst zu denunzieren. Es war möglich, dass er trotz aller Vorsichtsmaßnahmen mit Annabell zusammen gesehen worden war und sich dieses Arschloch nun einen Spaß daraus machte, ihn zu erschrecken.
Seine Erfahrung sagte ihm, dass er sich an eine Hoffnung klammerte, die die Realität nicht einlösen würde. Das tat sie nie, sie entschied sich immer für die schlimmste Variante. Leider schützte ihn seine Erfahrung nicht vor diesem letzten bisschen Hoffnung. Dabei war sie nichts anderes als die Feigheit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Sein Unterbewusstsein wollte nicht wahrhaben, was sein Verstand längst akzeptiert hatte: Der Anruf war von ihrem Handy gekommen, folglich musste ihr etwas passiert sein. Ausgerechnet Annabell, der Ersten, mit der er sich länger als ein Jahr regelmäßig traf. Die Gewohnheit und Routine beim Sex war ihm wichtig geworden, er hatte es satt, immer wieder von vorn beginnen zu müssen. Außerdem hatte Annabell Verständnis für ihn, und das war etwas, was er wirklich brauchte. Ihre mitfühlende Art war für ihn zu etwas geworden, worauf er nur noch schwer verzichten konnte.
In einem günstigen Moment, als die Straße leer und die Mutter mit dem Kinderwagen im Nachbarhaus verschwunden war, lief Stiffler mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf hinüber. Ohne zu zögern, drückte er die alte metallene Pforte auf und ging auf die Haustür zu. Er war diesen Weg oft gegangen, aber bisher nur in der Dunkelheit, und es fühlte sich absolut falsch an, es jetzt bei Tageslicht zu tun.
Drinnen empfingen ihn sofort die intensiven Gerüche verschiedener Abendessen, die im Treppenhaus zu einem olfaktorischen Unwetter kumulierten. Ohne den Handlauf zu berühren – er ekelte sich vor dem Dreck daran –, stieg er die Treppe hinauf, wandte sich nach rechts und ging vor bis zur Mitte des Flures. Schon bevor er die Tür erreichte, sah er, dass sie einen Spaltbreit offen stand.
Mit rasendem Puls blieb er davor stehen, lauschte, hörte aber kein Geräusch. Er zog seine Waffe, sah sich nach rechts und links um, drückte die Tür mit dem Knie auf und schob sich durch den erweiterten Spalt in die Wohnung. Dort lehnte er sich gegen die Tür und drückte sie mit dem Rücken ins Schloss.
Er entsicherte die Waffe und rief Annabells Namen.
Kein Laut.
Es gab hier keinen Flur. Durch die Eingangstür gelangte man sofort in den Wohnraum. Der war großzügig bemessen und wirkte durch die drei Meter hohe Decke beinahe wie ein Saal. Zwei Fenster befanden sich in der Wand gegenüber. Auf die zugezogenen Vorhänge schien die Abendsonne und tauchte den Raum in Orange.
Annabells Parfum lag in der Luft.
Sein Blick ging sofort zu dem weißen Sideboard neben der Tür. Von seinen zahlreichen Besuchen wusste er, dass sie dort ihre Handtasche, ihr Schlüsselbund und ihr Handy abzulegen pflegte. Kratzspuren auf dem weißen Lack zeugten davon, wie oft sie das getan hatte, aber heute war der Platz leer.
Die Tür war nur angelehnt, ihre wichtigen persönlichen Sachen waren nicht da, das konnte bedeuten, dass Annabell nicht in der Wohnung gewesen war, als jemand eingedrungen war. Es konnte aber auch genauso gut bedeuten, dass der Täter ihre Sachen mitgenommen hatte, nachdem er sie …
Eric dachte den Gedanken nicht zu Ende. Das musste er auch nicht. Er wusste aus Erfahrung, worauf es bei solchen Konstellationen hinauslief.
Die
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