Wassermanns Zorn (German Edition)
Morgen geklingelt hatte, auf Socken und im Schlafanzug durch ihre neue Wohnung getigert und hatte Regale eingeräumt. Dabei hatte sie es geschafft, die Zeit zu vertrödeln und zu spät loszukommen. Zwar war sie pünktlich zum ersten Dienstantritt im Büro erschienen, allerdings mit unfrisiertem Haar. Ein Blick in den Spiegel verriet ihr, dass ihre Haare jetzt, am Nachmittag, nicht besser aussahen.
Egal. Sie war schließlich nicht als Schönheitskönigin hier, sondern als frischgebackene Kommissarin. Ihr Aussehen sollte überhaupt keine Rolle spielen. Trotzdem versuchte sie mit ein paar geübten Griffen zu retten, was nicht zu retten war. Sie mochte ihr haselnussbraunes Haar, aber es war leider zu dünn und ließ sich nur schlecht frisieren. Feenhaar, wie ihre Mutter immer sagte.
Mit einem tiefen Seufzer gab sie es auf, verließ den Toilettenraum und eilte mit kleinen, schnellen Schritten durch das Treppenhaus nach oben. Es gab auch Fahrstühle, aber die waren nichts für sie, schon gar nicht, wenn sie so aufgeregt war wie jetzt. Dann musste sie entweder reden oder sich bewegen, am besten beides gleichzeitig.
Eine Minute vor der vereinbarten Zeit erreichte sie die Tür zum Vorzimmer. Sie vergaß zu klopfen und stürmte einfach hinein.
Im Blick der persönlichen Assistentin des Polizeichefs, die laut einem Schild auf dem Tisch Clara Heidkowski hieß, lag eine Mischung aus Überraschung und Missbilligung. Ihre dünngezupften Brauen zogen sich zur Mitte zusammen, als kreuzten sich zwei Klingen.
«Entschuldigung», sagte Manuela und deutete auf die Türklinke, als sei die schuld an allem. «Ich wollte nicht …»
Sie brach ab, atmete tief ein, versuchte sich zu sammeln und begann noch einmal von vorn.
«Ich bin Manuela Sperling. Ich habe einen Termin bei Herrn Bender.»
Die Assistentin wirkte jetzt belustigt. «Das ist schön», sagte sie. «Dann warten Sie doch bitte auf dem Gang. Herr Bender spricht gerade mit dem Innenminister.»
Die Fröhlichkeit in der Stimme dieser doch so streng wirkenden Frau irritierte Manuela. Sie wandte sich ab und wollte den Raum verlassen, als die Assistentin sich räusperte.
«Und ich würde etwas wegen Ihrer Hose unternehmen», sagte sie.
Manuela drehte sich zu ihr um, sah, dass die Frau mit dem Finger auf ihren Oberschenkel wies, und folgte dem Hinweis.
In ihrer dünnen schwarzen Stoffhose klaffte ein Loch in Form eines Dreiecks und entblößte die nackte Haut ihres Oberschenkels. Der Papierrollenhalter.
«O nein», stöhnte Manuela, presste die Hand darauf, verließ das Büro und zog die Tür hinter sich zu.
Diese Hose hatte sie sich extra für den ersten Tag neu gekauft. Sie war nicht billig gewesen. Sie untersuchte das Loch genauer und stellte fest, dass da nichts zu machen war. Der Stofffetzen klappte immer wieder herunter, selbst als sie versuchte, ihn mit Spucke an der Haut zu befestigen. Zwecklos. Und das Loch war auch noch vorn am Oberschenkel, für jeden gut sichtbar. Weiße Haut unter schwarzer Hose, einen auffälligeren Kontrast konnte es gar nicht geben.
«So ein verdammter Bockmist.»
Manuela stieß zornig mit dem Hacken in den Teppichboden wie ein kleines bockiges Kind. Wie konnte alles nur so schieflaufen? Weil es so warm war, hatte sie nicht einmal eine Jacke dabei, mit der sie das Loch hätte kaschieren können. Ihre schmalgeschnittene, violette Bluse war dafür viel zu kurz.
Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet, und Frau Heidkowski kam heraus.
«Herr Bender lässt bitten», sagte sie und reichte ihr eine braune, halblange Sommerjacke. «Nehmen Sie die, dann fällt es nicht so auf.»
Manuela war zu überrascht, um zu reagieren.
«Na los doch. Bender wartet nicht gern», sagte die Assistentin und lächelte.
Manuela griff zu und zog die Jacke an. Sie war bestimmt zehn Zentimeter kleiner als die Assistentin, aber dadurch war die Jacke so lang, dass sie das Loch in der Hose knapp verdeckte. Sie musste die Jacke nicht einmal schließen. Das hätte bei den sommerlichen Temperaturen sicher auch merkwürdig gewirkt.
«Vielen Dank», sagte sie.
Die Assistentin nickte und schob sie ins Büro.
«Auf in die Höhle des Löwen», sagte sie.
4
Das Haus stand unweit der City in einer Nebenstraße. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als imposante Kaufmannsvilla gebaut, dreigeschossig, mit zehn Fenstern pro Geschoss in der Vorderfront und zwei Säulen, die die Eingangstür flankierten, wirkte es inzwischen heruntergekommen.
Putz bröckelte von den
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