Wassermanns Zorn (German Edition)
aber das war ihr egal. Sie musste weg hier. So schnell es ging.
Um sie herum waren zahllose Menschen, und doch hätte ihre Einsamkeit in diesem Moment nicht größer sein können. Niemand würde ihr jemals helfen können, solange dieser Schatten der Vergangenheit hinter ihr her war.
Mit wild pochendem Herzen und einem Stechen in der Lunge erreichte sie endlich die S-Bahn-Station und erwischte gerade noch eine Bahn. Sie sprang hinein, blieb mit der Handtasche am Griff hängen, zerrte daran, bis der billige Karabiner zersprang, und fiel dadurch beinahe hin.
Leise zischend schlossen sich die Türen. Die Bahn setzte sich in Bewegung.
Lavinia presste sich an die Tür, ihr Atem beschlug die schmutzige Scheibe. Durch den Nebel hindurch beobachtete sie die rasch kleiner werdende Haltestelle. Es war, als hätte die Bahn sie aus ihrem Leben gerissen.
3
«Hey, Superwoman, fang die bösen Buben. Ich bin stolz auf dich.»
Zum siebten Mal an diesem Tag las Manuela Sperling die SMS auf ihrem neuen Smartphone. Sie stammte von ihrem kleinen Bruder, Timmy. Er hatte sie ihr schon heute früh um sechs geschickt. Der Einzige aus der Familie, der an sie gedacht hatte und nachempfinden konnte, wie es ihr an ihrem ersten Tag in der neuen Dienststelle ging.
Es ging ihr beschissen. Seit gestern stand der Termin für das Gespräch mit dem Polizeichef fest, und seitdem spielte ihr Körper verrückt. Kein Appetit, kein Stuhlgang, dafür gebärdete sich ihre Blase, als hätte sie literweise Brennnesseltee getrunken, aber heraus kam so gut wie nichts.
Derart heftige körperliche Reaktionen auf Stress hatte sie während der gesamten Akademiezeit nicht gehabt. Sie verstand nicht, was die Aufregung sollte. Hans Bender war nur ein Mensch, wie hoch dekoriert und berühmt-berüchtigt er auch sein mochte. Aber seit Eric Stiffler, Leiter des Morddezernats und ihr direkter Vorgesetzter, sie heute früh vor dem cholerischen Wesen des Polizeichefs gewarnt hatte, war ihr gewohntes Selbstbewusstsein wie weggeblasen. Das irritierte Manuela ganz gewaltig, denn Angst vor Männern war ihr, die mit drei Brüdern aufgewachsen war und alle denkbaren Kämpfe mit ihnen ausgefochten hatte, eigentlich fremd.
In der stillen Abgeschiedenheit der Toilettenräume setzte sie sich abermals auf die kalte Klobrille. Sie schrieb Timmy eine Antwort-SMS, in der sie ihm von dem bevorstehenden Termin berichtete und ihm dankte, dass er an sie gedacht hatte. Zu Timmy hatte sie schon immer eine besondere Beziehung gehabt. Er war dreiundzwanzig, zwei Jahre jünger als sie und das jüngste Kind der Sperlings. Er studierte im zweiten Semester Journalismus und war der Erste aus der Familie, der eine richtige Uni besuchte. Die Polizeifachhochschule zählte nicht, egal wie oft Manuela ihrem Vater auch erklärte, dass sie dort ein reguläres Studium abgeschlossen hatte. In seinen Augen war sie eine gewöhnliche Beamtin, und die rangierten bei ihm gleich hinter Versicherungsvertretern. Als Timmy es noch nötig gehabt hatte, war es meistens Manuela gewesen, die auf ihn aufgepasst hatte. Wie alle Sperlinge konnte auch er seinen Mund nicht halten. Er redete zwar deutlich weniger als sie, mischte sich aber überall ein, wo es seiner Meinung nach ungerecht zuging. In der Schulzeit hatte er sich damit oft in die Bredouille gebracht. Timmy und sie waren sich sehr ähnlich. Manuela liebte Timmy, und er fehlte ihr. Heute war ihr Bruder zwei Köpfe größer als sie, ein Schrank von einem Kerl, der ihren Schutz nicht mehr benötigte.
Als sie die SMS abschickte, stellte Manuela fest, dass ihr nur noch neun Minuten blieben, um hinauf in die Teppichabteilung zu gelangen, wo der Chef residierte.
«Mist!» Mit einem Ruck sprang sie von der Klobrille auf. Dabei stieß sie mit dem rechten Oberschenkel gegen den viel zu niedrig angebrachten Papierrollenhalter, blieb mit dem Ledergürtel daran hängen und riss ihn mitsamt den Schrauben aus der dünnen Pressholzwand. Laut klappernd fiel das Metallteil zu Boden und übertönte ihren Fluch.
Manuela erstarrte. In dem gekachelten Raum hallte das Geräusch ewig nach. Als es wieder still war, zog sie sich an, hob den Papierrollenhalter auf und legte ihn auf den Spülkasten. Zum Glück war sie allein in der Toilette, sonst hätte sie an ihrem ersten Tag in der neuen Dienststelle schon eine Sachbeschädigung melden müssen.
Dann verließ sie die Kabine, trat ans Waschbecken und wusch sich eilig die Hände. Sie war, bereits eine Stunde bevor ihr Wecker am
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