Wassermanns Zorn (German Edition)
Display.
Werkstatt ruft an.
9
Er saß auf einer Holzbank und beobachtete, wie sie im Spinnennetz der Wege den richtigen fand. Er wusste ohnehin genau, welches Grab sie aufsuchte, deshalb vermied er die Gefahr, dass sie ihn wiedererkennen würde.
Diesen Moment der Ruhe wollte er nutzen. Die plötzliche Änderung ihres Tagesablaufs war nicht gut, und er musste dringend über alles nachdenken. Bisher war alles nach seinen Vorstellungen gelaufen. War er deshalb unvorsichtig geworden? Oder zu selbstsicher? Kein Plan war perfekt, auch seiner nicht, wie sich gerade zeigte, aber vielleicht bot sich ihm hier eine Chance.
Er musste dringend anrufen.
Warum nicht von hier aus? Der Ort war nicht nur so gut wie jeder andere, sondern besser. Ein weiterer Schlag, der Stiffler in die Knie zwingen würde. Er lächelte.
Dann zog er eines der drei Handys, die er bei sich hatte, aus der großen Beintasche seiner olivgrünen Cargohose. Aus dem Telefonbuch wählte er Stifflers Nummer. Die Hure hatte ihn dort als «Agent» abgespeichert. Was für ein Witz!
Stiffler meldete sich mit einem unfreundlichen «Ja?».
«Na, Stiffler. Bist du mir dicht auf den Fersen?»
«Was willst du, du krankes Arschloch?»
«Bist du bereit für ein weiteres Geschenk? Komm und hol es dir. Es wartet hier auf dich.»
Er legte auf und merkte sich die Uhrzeit.
10
Die Überwachung und Ortung des Handys hatte eine zentrale Dienststelle des Landeskriminalamtes übernommen. Die zuständige Abteilung dort hatte Anweisung, Vorkommnisse per Mail, SMS oder Telefon direkt an Eric durchzugeben. Seit dem letzten Anruf gestern Abend war Annabells Handy abgeschaltet gewesen, was dafür sprach, dass der Täter wusste, wie die Polizei vorging. Ein eingeschaltetes Handy ließ sich einfach und schnell orten.
Eric rief beim LKA an.
«HK Stiffler hier.»
«Ich wollte Sie in dieser Sekunde …»
«Von wo hat er angerufen?», unterbrach er den Mann.
«Warten Sie bitte noch einen Moment, ich bekomme gerade die Geodaten.»
Die halbe Minute, die Eric schweigend am Telefon verbringen musste, zog sich endlos hin. Er stand auf und stellte sich vor die große Karte, die an der Wand in seinem Büro hing. Der Straßenwirrwarr machte ihn plötzlich wütend, und er wollte schon in sein Handy brüllen, als der Beamte sich wieder meldete.
«So, jetzt habe ich es. Und zwar sehr genau. Innenstadt. Zwischen Liegnitzer Straße und Operettenplatz.»
Eric suchte mit dem Zeigefinger den beschriebenen Bereich.
«Der Zentralfriedhof?»
«Liegt im Kernbereich.»
«Alles klar. Danke.»
Eric beendete das Gespräch und steckte das Handy weg. Dann schnappte er sich Jacke und Waffe und verließ sein Büro. Auf dem Weg aus dem Präsidium schaute er im Büro von Peter Nielsen von der Sitte vorbei, den er für die Mordkommission Ufer ausgewählt hatte, doch der saß nicht an seinem Schreibtisch. Eric versuchte es bei Petrie, fand ihn in seinem Büro und informierte ihn darüber, dass das Meeting eventuell etwas später beginnen würde. Sie sollten sich trotzdem im Besprechungsraum einfinden und gegebenenfalls warten.
Für einen kurzen Moment fragte Eric sich, ob er Petrie einweihen und mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen. Es war einfach noch zu früh. Er wusste ja nicht, was ihn auf dem Zentralfriedhof erwartete.
Danach hastete Eric in die Tiefgarage, sprang in seinen Dienstwagen und gab Gas.
Während er sich durch den dichten Innenstadtverkehr schlängelte, fühlte er sich gar nicht mehr alt oder leer. In ihm war etwas erwacht, das er lange Zeit nicht mehr gespürt und bereits verloren geglaubt hatte: Jagdfieber.
11
«Wie sah der Typ denn aus?», fragte Helmut.
Frank Engler hatte seinen Bruder vor der Dialysestation des Krankenhauses getroffen. Beide hatten Patientinnen hierhergefahren. Jetzt standen sie in der kleinen überdachten Raucherecke und zogen an ihren Zigaretten.
Frank zuckte mit den Schultern.
«Wie ein Junkie, ehrlich gesagt, und wenn ich ihn zwei Sekunden früher gesehen hätte, hätte ich Gas gegeben und ihn stehenlassen. Aber der war geschickt, hat sich in der Bushaltestelle versteckt. Vielleicht hat er so was ja nicht zum ersten Mal getan.»
Helmut blies den Rauch aus. Er war ein kleiner runder Mann mit Halbglatze und ständig roten, tränenden Augen, weil er auf so gut wie alles allergisch reagierte. Die Brusttasche seines kurzärmeligen blauen Hemdes hing durch unter dem Gewicht des obligatorischen Handys, der Zigarettenschachtel und zweier
Weitere Kostenlose Bücher