Wassermanns Zorn (German Edition)
legte, sie aufriss, dann …
Sie sah Frank lange an und dachte nach. Er wich ihrem Blick nicht aus. Das Licht der tiefstehenden Sonne zauberte helle Sprenkel in seine bernsteinfarbenen Augen.
Lavi wollte ihm vertrauen. Sie ahnte, dass sie einen Gefährten brauchen würde. Allein würde sie sonst vielleicht untergehen.
Als sie gerade ja sagen wollte, klingelte Franks Handy.
Er beugte sich in den Wagen und nahm das Gespräch entgegen. Lavi konnte es über die Lautsprecher des Taxis mitverfolgen. Es war wieder die nett klingende Frau, die sich schon während der Fahrt hierher nach seinem Befinden erkundigt hatte. Sie bat ihn, eine Fahrt zu übernehmen, aber nur wenn er sich dazu in der Lage fühlte.
Frank sah sie mit hochgezogenen Brauen fragend an.
Lavi nickte, und er bestätigte die Fahrt.
«Ich fahre dich erst noch nach Hause», sagte er, als sie wieder im Wagen saßen.
«Du kannst mich doch auch an der …»
«Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich fahre dich bis vor die Haustür, so wie gestern.»
Er rangierte den Wagen aus dem engen Feldweg.
«Und auf der Rückfahrt kannst du mir von diesem Mann erzählen, vor dem du fortläufst.»
Doch das tat Lavinia nicht.
Stattdessen verbrachten sie die Rückfahrt schweigend.
Frank drängte nicht. Er fragte nicht noch einmal nach, sondern ließ sie in Ruhe. Dafür war Lavinia ihm dankbar. Sie wollte ihm ja alles erzählen, aber sie wusste nicht, wo sie beginnen sollte.
Nein, das stimmte nicht. Sie wusste sogar sehr genau, womit sie beginnen musste, aber sie scheute sich davor. Wie würde Frank reagieren, wenn er erfuhr, dass sie von ihrem achtzehnten bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr als Escort-Mädchen gearbeitet hatte? Bei den anderen Typen, die sie privat kennengelernt hatte, war es ihr egal gewesen, ob sie es verstanden oder nicht. Doch bei Frank Engler, der so dicht neben ihr saß und ihr durch sein Schweigen bewies, wie einfühlsam er sein konnte, war es ihr nicht egal. Lavinia wollte, dass er sie verstand, und deswegen musste sie ganz von vorn beginnen. Das ging aber nicht während einer kurzen Autofahrt und nicht, ohne dass sie vorher ihre Gedanken sortierte.
Als er vor ihrem Haus hielt, hatte sie sich zu einer Entscheidung durchgerungen.
«Entschuldige bitte», begann sie.
Er schüttelte den Kopf.
«Du musst dich weder entschuldigen noch mir etwas von dir erzählen.»
«Doch, muss ich. Kannst du später vorbeikommen? Vielleicht um acht?»
Er sah sie an und legte den Kopf leicht schräg, so, als wolle er herausfinden, ob sie es wirklich ernst meinte.
«Okay. Punkt acht bin ich hier», sagte er schließlich.
Lavinia öffnete die Tür, stieg aus, beugte sich aber noch einmal hinunter.
«Das ist nicht einfach für mich», sagte sie.
Er lächelte.
«Wessen Vergangenheit ist schon einfach? Pass auf dich auf, und wenn irgendwas ist, dann ruf an. Sofort!»
«Werde ich. Danke für die Fahrt.»
Sie schlug die Tür zu und sah dem abfahrenden Wagen nach.
Schließlich drehte sie sich um und ging den schmalen gepflasterten Weg zu ihrer Haustür entlang. Er war gesäumt von hohen Büschen, die einen betäubenden Duft verströmten. In ihrem Schatten war es kühl, aber auch fast schon dunkel.
Lavinia beschleunigte ihre Schritte.
Schon spürte sie wieder Blicke in ihrem Nacken.
An der Haustür angekommen, stellte sie die Plastiktüte ab und suchte in ihrer Handtasche nach dem Türschlüssel.
Das Schaben von harten Sohlen auf den Pflastersteinen drang ihr ins Mark. Sie fuhr herum.
Zwischen den Büschen schob sich eine große, dunkle Gestalt auf sie zu.
21
Seit zwei Stunden saß Manuela Sperling an dem Schreibtisch im Großraumbüro, den man ihr für den Zeitraum ihres Praktikums in dieser Dienststelle zugewiesen hatte. Da es bereits nach achtzehn Uhr war, arbeitete außer ihr nur noch ein Kollege. Sie konnte ihn nicht sehen hinter den Grünpflanzen, die als Raumteiler dienten und so etwas wie Privatsphäre vorgaukeln sollten, wusste aber, dass er da war, weil er sie vor zehn Minuten gefragt hatte, ob er ihr einen Kaffee mitbringen solle.
Überrascht hatte Manuela mit Ja geantwortet, obwohl sie gar keinen Kaffee trank. Sie war auch ohne Koffein schon hibbelig genug, wollte aber auch nicht unhöflich sein. Er sah gut aus und hatte einen verdammt netten Hintern. Manuela freute sich, von ihm bemerkt worden zu sein, und hatte den Kaffee sogar getrunken. Was für ein widerliches Zeug! Es hinterließ nicht nur ein pelziges Gefühl auf der Zunge, sondern
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