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Wassermanns Zorn (German Edition)

Wassermanns Zorn (German Edition)

Titel: Wassermanns Zorn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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helfen.
    Stattdessen sackte ich zusammen, als hätte ich keine Muskeln mehr. Ich rutschte einfach so vom Baumstamm, völlig halt- und kraftlos. Eine Armlänge von meinem Opa entfernt saß ich da und konnte keinen Finger rühren. Noch heute höre ich seine Worte:
    Hilfe … holen … Frank.
    Ja. Frank hätte Hilfe holen sollen, so schnell wie möglich. Unser Haus war ja nicht weit entfernt. Ich hätte es in fünf Minuten erreichen können, wenn ich gerannt wäre wie der Teufel. Aber ich konnte nicht rennen. Nicht einen Muskel konnte ich bewegen. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Du kannst dir nicht vorstellen, wie verzweifelt ich versuchte, mich zu bewegen. Ich konnte nichts sehen, die Lider waren mir zugefallen, dafür aber konnte ich hören. Ich hörte meinen Opa seine letzten Worte sprechen, hörte ihn um Hilfe flehen, hörte, wie seine Hand im Schnee nach Halt suchte, während seine Atemzüge immer schwächer wurden und schließlich – nichts mehr.»
    Frank musste einen Moment innehalten, bevor er weitersprechen konnte.
    «Erst zehn Minuten später konnte ich mich wieder bewegen. Da war er längst tot. Als ich meine Augen endlich öffnete, war das Erste, was ich sah, sein Blick. Noch im Tod sah er mich an. Mit dieser Frage in seinen Augen: Warum sitzt du nur da? Warum hilfst du mir nicht? Dieser Blick …»
    Frank brach erneut ab und schüttelte den Kopf. Er war den Tränen nah.
    «Verstehst du? Mein Opa wusste ja nicht, was mit mir los war. Er hat sicher gedacht, ich sei mal wieder eingeschlafen. Für seine Begriffe schlief sein Lieblingsenkel, während er so dringend Hilfe brauchte wie noch nie zuvor in seinem Leben.»
    Instinktiv wollte Lavinia ihre Hand ausstrecken, dachte aber an seine Warnung von vorhin und ließ es. Eine Kleinigkeit nur, dachte sie, aber so fängt die Einsamkeit wohl an.
    «Später erfuhr ich, dass heftige Emotionen wie Wut, Trauer, Angst, aber auch Glück Kataplexien auslösen können. Die Verzweiflung und die Wut, die ich spürte, weil ich meinem Opa nicht helfen konnte, verstärkten den Anfall noch, und ohne es zu wissen, steigerte ich mich immer weiter hinein.»
    «Das … Das tut mir so leid», murmelte Lavinia.
    Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, als wolle er die Erinnerung fortwischen.
    «Willst du was Lustiges hören?», sagte er.
    «Nein», antwortete Lavinia und meinte es auch so. Ihr war überhaupt nicht nach etwas Lustigem zumute.
    «Im Volksmund nennt man Kataplexien auch Lachschlag, weil sie sogar vom Lachen ausgelöst werden können. Humor ist also auch verboten.»
    Frank stieß die Fahrertür auf.
    «Ich brauche jetzt eine Zigarette», sagte er und stieg aus.

20
    «Was ist eigentlich mit dir?», fragte Frank zwischen zwei Zigarettenzügen über das Dach des Taxis hinweg. «Wirst du immer noch verfolgt?»
    Lavinia war ebenfalls ausgestiegen.
    Sie fühlte sich wie betäubt. Die Geschichte, die Frank ihr gerade erzählt hatte, hinterließ in ihr eine große Leere, denn die darin enthaltene Botschaft war eindeutig: Ganz egal, wie sehr man sich auch anstrengte, man hatte sein Leben niemals ganz unter Kontrolle. Alles Mögliche konnte passieren und die Dinge zum Guten oder zum Schlechten verändern. Sie hatte es selbst erlebt, sich in den vergangenen drei Jahren aber zurückgearbeitet in ihre Spur, aus der sie der Mord an Susan so brutal geschleudert hatte. Doch die vermeintliche Sicherheit, die sie wieder empfunden hatte, hatte getrogen. Der Mörder hatte sie immer im Auge behalten, deswegen war es ihm auch so leicht gefallen, sie wiederzufinden. Er hatte nur ein bisschen schneller gehen müssen, um sie einzuholen.
    «Ich weiß es nicht, aber ich denke, schon.»
    Frank nickte. Eine Qualmwolke stieg vor seinem Gesicht auf.
    «Jemand hat angerufen und wollte wissen, wie ich heiße und wo ich wohne. Er bezog sich dabei auf die Fahrt von gestern. Kann das der Typ gewesen sein, der dich verfolgt?»
    «Was? Ich verstehe nicht. Wer hat angerufen?»
    «Irgendein Mann. Er hat zwar einen anderen Grund vorgeschoben, aber eigentlich wollte er wissen, wer dich von der S-Bahn-Station nach Hause gefahren hat.»
    Lavinia schloss kurz die Augen. Wenn sie noch einen Beweis gebraucht hätte: Hier war er. Sie war nicht paranoid. Er war hinter ihr her.
    «Erzählst du mir von diesem Mann? Es gibt doch eine Geschichte dazu, oder?»
    Lavinia wusste nicht, ob sie sie wirklich erzählen wollte. Sie hatte all das hinter sich lassen wollen, und wenn sie jetzt den Finger in die Wunde

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