Wassermans Roboter
mein lieber Vincent, Geduld«. Vincent sitzt spät abends, sehr spät abends, zu spät abends, im Café L’Alcazar, und schreibt einen Brief nach dem anderen an seinen Bruder.
»Wir schließen jetzt, Monsieur. Sie müssen jetzt gehen. Wir stellen jetzt die Tische hinein. Monsieur, haben Sie denn kein Zuhause, wo Sie hingehen können?« sagen die Kellner in ihren weißen Schürzen, und Vincent, der zu viel trinkt und zu wenig ißt und so gut wie gar nicht schläft, überquert den Platz und erklimmt die Stufen seines Gelben Hauses. In seinem blautapezierten Schlafzimmer träumt er unter den sechs Sonnenblumengemälden. Er träumt von einer Bruderschaft der Künstler, er träumt von geschwungenen japanischen Brücken unter Regennadeln, doch hauptsächlich träumt er von der kochenden Scheibe der Sonne.
In diesen Träumen spricht die Sonne zu ihm. Sie nennt ihn ihr vom göttlichen Wahnsinn berührtes Kind und zeigt ihm ihre eigenen Gemälde: einen Hut, der im Wipfel eines hohen Baumes festsitzt; eine Rose, durchstochen von einer silbernen Dorne; einen König auf einem brennenden Thron; einen Raben mit einer Kirsche im Schnabel; eine Krone in einem Kornfeld; den Himmel, der voll von den dunklen Vögeln eines bösen Omens ist.
»Siehst du, Vincent«, sagt die Sonne, »dies sind meine Gemälde von dir. Sind es nicht schöne, bemerkenswerte und bedeutende Arbeiten?«
Wenn Vincent erwacht, sind die Leinwände der Nacht immer noch bei ihm, und dann packt er sie zu seinen eigenen Leinwänden und Pinseln, seinen Ölfarben und der Staffelei, und nimmt sie mit hinaus in die Straßen der Provence, hinein in die Hitze und den Staub und den Duft wilden Thymians, zur gelben Sonne. Nachdem er eine Weile gegangen ist – weit genug –, baut er die Staffelei und die Leinwand auf und malt, bis die Schatten länger werden. Er malt, bis die Bilder der Nacht aus ihm verschwunden sind, denn er fürchtet, wenn er sie in seiner Phantasie hätschelt, werden sie die schwarzen Vögel des Wahnsinns zurückbringen, die sich um seine Seele scharen. Wenn er sich entleert hat und so leer ist wie ein Brunnen im Sommer, schaut er sich sein Werk an und sieht dessen satte Farben, seinen festen roten und grünen Pinselstrich, sein geliebtes Blau und Gelb. Er sieht die Sonne, die er auf der Leinwand eingefangen hat, und erinnert sich an seinen Lehrer an der Pariser Akademie.
»Wer sind Sie?« hat er gefragt, ungläubig angesichts der kartoffelgesichtigen Bauern und des bibelschwarzen Himmels von Borinage.
»Ich bin Vincent der Holländer«, hat Vincent geantwortet, und als er sich dessen in den abendschattigen Feldwegen der Provence erinnert, lächelt Vincent der Holländer und schreibt seinen Namen in die linke untere Ecke.
Eines Nachts, nachdem er sich der Erschöpfung ergeben hat, kommt ein Bild der Sonne aus seinem Herzen, das er noch nie zuvor gesehen hat. Er steht auf einem endlosen Kiesstrand vor einem silbernen Meer. Die Luft ist vom Geräusch mahlender Kiesel und dem Geschrei unsichtbarer Seevögel erfüllt. Hinter dem silbernen Meer schwebt eine Dunstwolke aus kränklich aussehendem gelben Rauch durch die Luft, als würden Milliarden rülpsender Schornsteine irgendeiner weltumspannenden Stadt, irgendeines universalen Borinage, eine Decke aus Pest und Schmutz ausspeien, um die Sonne zu verdunkeln.
In weiter Ferne, am Strand, wächst ein Baum aus dem sterilen Ufer, und als Vincent darauf zugeht, sieht er, daß er sowohl in Blüte steht als auch reife Früchte trägt, und seine Blätter sind sowohl sommergrün als auch herbstbraun. Unter dem Baum sitzt ein Mann. Sein Gesicht ist nicht erkennbar, so stark blendet die Sonne auf dem gläsernen Meer, doch seine Stellung zeigt deutlich, daß er in Gedanken versunken ist. Doch als Vincent näherkommt, schaut der Mann auf, und Vincent erkennt schockiert, daß er nicht der ist, für den er ihn gehalten hat. Es ist nicht er selbst.
Und dann gibt es die Tage, an denen der Mistral aus dem Norden bläst. Er biegt die Bäume bis zum Boden, läßt die Kornfelder knistern wie das Fell der Katzen, trocknet Vincents Seele aus und macht ihn ein wenig irre, so daß er kleine Felsbrocken auf die Ecken seiner Leinwand legt, damit sie nicht wegfliegt. Wenn der Mistral bläst, halten die braungebrannten Menschen der Provence ihre Hüte fest und wundern sich über den verrückten Ausländer, der malt, wenn der Wind vom Norden weht, und der ewig, ewig in die Sonne schaut, als suche er nach etwas, das in ihrem
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