Wassermans Roboter
Glanz verborgen ist, etwas, das niemand sehen kann. Er sucht nach dem vom Winde verwehten Hut und der durchbohrten Rose, nach dem König, der Krone und dem Raben. Er hält nach dem Strand an dem silbern glänzenden Meer Ausschau. Er hält Ausschau, um zu sehen, ob die dunklen Flecke auf dem Angesicht der Sonne nur die Vögel des Wahnsinns sind, die auf ihn herunterstoßen.
Oh, Vincent ist verrückt; ja, Vincent ist irre, und Vincent fürchtet den die Erde umrundenden Wahnsinn mehr als den schwarzen Realismus des Todes. Er fürchtet, daß seine geistige Gesundheit vom Mistral fortgeblasen wird, wie eine nicht beschwerte Leinwand, wie ein Hut, der in den Zweigen eines hohen Baumes landet … Sein Hut! Sein Hut! Sein Lieblingsstrohhut, er wird ihm vom kalten, trockenen Wind aus dem Norden vom Kopf gerissen und huscht hämisch unter seinen zugreifenden Fingern davon. Er hüpft über Hecken, springt über steinerne Mauern und gekalkte Lattenzäune.
All die braunen Ledermenschen brechen in ein krauses Gelächter aus, als der verrückte Holländer hinter seinem hüpfenden, sich überschlagenden Hut herrennt. Dann peitscht ihn ein letzter Winteratemzug aus den Niederlanden geradewegs hoch in die Luft, über eine Reihe blühender Walnußbäume hinweg, entfernt ihn von seinen zugreifenden Fingern, bis der Wind sich launenhaft auflöst und seinen Hut in den höchsten Ästen des höchsten Baumes deponiert.
»Verdammt«, sagt Vincent, und mit der starrköpfigen Sturheit eines Holländers setzt er dazu an, seinen Hut zurückzuerobern. Er kann ihn dort oben sehen, wie er von den gewaltigen Ästen des letzten Baumes in der Reihe festgehalten wird. Wie lange ist es her, seit Vincent auf einen Baum geklettert ist?
Er kann sich nicht daran erinnern, aber diesen hier muß er erklettern. Die gelbe Sonne knallt ihm auf den Schädel, und als Vincent in der Wegmitte steht, glaubt er, das Geschrei der Möwen hören zu können, ja; und das Krachen der Brandung an ein Ufer, wie kann das sein? Und statt der festgetretenen Erde der Provence ist er sicher, unter seinen Füßen rollende, rutschige Kiesel zu spüren.
Er rennt den Weg entlang, er läuft zum Strand hinunter; er atmet jetzt schwerer, und mit jedem Atemzug inhaliert er den Wohlgeruch wilden Thymians, ja, aber auch das Salz des Ozeans. Vor sich sieht er keine Reihe großer Walnußbäume mehr, sondern nur einen einzigen, der unmöglicherweise gleichzeitig blüht und Früchte trägt, und seine Blätter sind zugleich grün und braun. In den Ästen des Baumes: sein Hut. Unter dem Baum sitzt auf orientalische Weise ein Mann, der sich nun erhebt, um ihn zu begrüßen.
»Wahnsinn!« sagt Vincent, der fürchtet, daß er die Welt verlassen und in ein wirbelndes Chaos hineingelaufen ist, ohne Hoffnung auf Rückkehr zu haben. »Wahnsinn.«
»Hallo, Vincent«, sagt der Mann unter dem Baum. Er sieht sehr französisch aus, sehr elegant, sehr charmant. »Ich habe so darauf gehofft, dich einmal kennenzulernen.«
»Wahnsinn!« schreit Vincent. »Wahnsinn!« Hinter ihm donnert das silberne Meer gegen den Strand, und es rollen und klicken die Kiesel in der Schwebe des Seins zwischen Berg und Sandkorn.
»Möchtest du vielleicht ein Glas Wein?« fragt der Mann unter dem Baum. »Es ist ein ganz wundersamer Jahrgang, aber äußerst erfrischend. Setz dich! Setz dich!«
Vincent setzt sich auf die harten, runden Kiesel. Irgendwoher – ohne daß Vincent es sehen kann – beschafft der adrette französische Herr eine Flasche hellen Rose und zwei Gläser.
»Auf deine Gesundheit«, sagt er und hält Vincent sein Glas entgegen.
»Ich fürchte, ich kann Ihre guten Wünsche nicht erwidern, mein Gastgeber, da ich weder Ihren Namen, noch den des Ortes kenne, an den Sie mich gebracht haben.«
»Dies ist der Strand des Meeres der Ewigkeit«, sagt der Mann unter dem Baum und verfällt wieder, die Beine gekreuzt, in eine traumvertraute Haltung innerer Einkehr. »Es handelt sich dabei um eine Vorschau auf die Geschichte, ein Belvedere der Erinnerungen, einen höheren Ort, der von Maschinen hervorgerufen wird – den Hohen und Strahlenden, innerhalb derer ich existiere, und von denen aus ich alles erforschen darf, das vergangen ist und ich aus ihren Erinnerungen zu neuem Leben erwecken kann.
Ich bin Jean-Michel Rey, in meinem eigenen Zeitalter besser bekannt als der König der Schmerzen. In einer Welt, wo jeglicher Schmerz unter die Kontrolle der Hohen und Strahlenden gebracht wurde, bin ich ganz einfach
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