Wassermans Roboter
Gewissen und Richter. Da die Maschinen selbst gewissenlos sind, suchten sie sich ein Gewissen, und deswegen ist ein Flugzeugmechaniker aus Dijon der König der Schmerzen, allwissend und, wie ich fürchte, auch allmächtig.
Hör zu, Vincent; es gibt ein Gesetz, ein einfaches Gesetz. Ich bin ein einfacher Mann; es kann in einer schmerzfreien Welt, in der das Herz des Menschen so boshaft und unversöhnlich ist wie nie zuvor, nur ein Gesetz geben. Das Gesetz lautet so: Wer einem anderen Schmerzen zufügt, wird bestraft. Mit Schmerz. Dies ist mein Gesetz, Vincent, es ist einfach, wenn nicht gar primitiv, und mit Hilfe der Hohen und Strahlenden setze ich es durch. In der Kluft zwischen dem Erreichten und noch zu Erreichenden bestimme ich, das Gewissen, der König. Darf ich es wagen, ›der Gott‹ zu sagen?
So ist es, Vincent. Oh, aber du hast ja deine Gemälde und Leinwände nicht mitgebracht. Wie schade.« Der König der Schmerzen erhebt sich von seinem Sitz und nimmt Vincents Hut aus den Ästen seines Baums. »Weißt du, Vincent, von allen Künstlern und Malern, zu denen ich aufgrund der Erinnerungen der Hohen und Strahlenden Zugang habe, bist du, nur du allein, derjenige, der mein Porträt malen soll.«
Und so malt Vincent das Porträt des Königs der Schmerzen. Am Morgen erwacht er aus weißem Schlaf, und mit Leinwand und Staffelei über die Schulter gehängt, die Farben in der Utensilienkiste eines Anglers unter dem Arm, läßt er sich vom Mistral dorthin wehen, wo er ihn haben will, über welche Straße, welchen Feldweg auch immer. Er weiß, daß alle Straßen und Feldwege schließlich zum Meer der Ewigkeit und dem Mann führen, der an seinem Ufer lebt, wo die Sonne stets zwei Stunden hinter dem Mittag steht und deren Licht so gelb ist wie das Korn.
Dort malt Vincent. Als er Grate aus hellem sattem Pigment auf die Leinwand drückt, redet der König der Schmerzen von vielen Dingen, ganz anders als die Menschen, die einem sonst Modell sitzen.
»Hast du eigentlich eine Vorstellung davon«, sagt der König der Schmerzen, während er unter seinem Baum ausruht, »was es bedeutet, der König der Schmerzen zu sein?«
Vincent sagt auf diese Frage weder ja noch nein, da die Frage, die ein König stellt, nur von einem König beantwortet werden darf. »Aber Vincent, hast du nie darüber nachgedacht, worin das, was ich tue, besteht?« Und mit dem Mittel der Selbstantwort wünscht jener König der Schmerzen, den Vincent nicht sehen kann, jener König der Schmerzen, der im Innern der Maschinen lebt, mit Nachdruck die Strafe, in einem brennenden Haus zu sterben, auf eine Frau aus Tientsin herab, die ihren Gatten, den sie verabscheut, verlassen hat; er quält einen korrupten jungen Computer-Systemanalytiker aus Atlanta mit stechenden Magenschmerzen; er foltert eine egoistische, ehrgeizige Karrieristin aus Duisburg mit der Furcht vor dem Tod und der Vernichtung und bringt einen Zeitungsredakteur, der seine liebliche, unschuldige, an einen Rollstuhl gefesselte Ehefrau über den Rand einer Brücke in Sydney lockt, dazu, wie ein Ei auf den sauberen blauen Wassern des Hafens zu zerplatzen.
»So geht das, Vincent«, sagt der König der Schmerzen und schließt gnädig die Tore von Schmerz und Strafe vor Vincents Augen. »Ich habe getan, was ich kann, um die Menschen davon abzuhalten, einander weh zu tun, doch ich kann nicht in ihre Herzen gelangen, denn wo Freiheit herrscht, gibt es auch immer jemanden, der sie mißbraucht. Manchmal fürchte ich, daß auch ich nicht besser bin. Und so geht es immer weiter, Schmerzen und Leiden, Furcht und Schuld. Es muß einen besseren Weg geben als den von Schuld und Sühne.«
Dann ist es, als würde eine Wolke vor der Sonne und über den König der Schmerzen hinwegziehen, und er fragt: »Weißt du, warum ich aus allen Künstlern der Geschichte dich auserwählt habe, mein Porträt zu malen?«
Vincent zuckt die Achseln und wirft Rot auf die Leinwand.
»Da ich die Zukunft gesehen habe, Vincent, ist sie meine Vergangenheit, und ich weiß, daß du größer sein wirst als jeder andere. Als jeder andere. Deine Gemälde werden Freude und Schmerz in die Herzen von Millionen tragen. Du wirst ewig leben, Vincent!«
»Werde ich berühmt und erfolgreich sein?« fragt der Maler, der nie ein Bild verkauft hat.
»Vincent, Generationen Ungeborener werden dich verehren!« Der König der Schmerzen lächelt boshaft vor sich hin, und die Luftwellen kräuseln sich, und Vincent blinzelt sich aus dem Schlaf und
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