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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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findet sich am Rande eines sonnigen Weges wieder, wo roter Klatschmohn sich auf weiter Flur wiegt und die Sonne sich aus ihrer Position zwei Stunden nach Mittag niedersenkt.
    Als er über die Kornfelder nach Hause geht, über Wege, die von Zypressen umsäumt sind, fürchtet Vincent allmählich, daß alles nur ein Traum gewesen ist. Ein König der Schmerzen, am Strand eines silbernen Meeres, ein Baum? Eine Welt, beherrscht von Maschinen, in der »Wehe …« das einzige Gesetz ist?
    Nein nein nein nein nein. Einbildung. Vincent weiß, wieviel Kummer er in den letzten Monaten gehabt hat, wieviel er hat trinken müssen, um den Kummer zu verwinden, wie wenig er zu essen sich geleistet hat. Vincent weiß, wie seicht und kurz seine traumschwangeren Nächte gewesen sind. Vincent weiß, daß Menschen durch zu langes Fasten den Verstand verlieren und zu einem Fädchen im Wind werden können. Einbildung also. Das redet er sich ein: Es war alles nur Einbildung. Aber wenn es nur Einbildung war, ist da noch ein häßlicheres Wort, das darunterliegt:
    Wahnsinn.
    Er fürchtet, daß der Wahnsinn sich endgültig in die inneren Zonen seines Geistes vorarbeitet und Bilder dieser Art um ihn errichtet, um neue Landschaften der Geisteskrankheit zu erbauen, in denen er sich möglicherweise verliert. In dieser Nacht liegt Vincent auf seinem hölzernen Bett im Gelben Haus und fürchtet fürchtet fürchtet sich. Er weiß, wenn er einschläft, ist der Wahnsinn immer da, hockt auf seinem Bettpfosten wie ein dunkler Vogel aus bösen Omen, und wenn er erwacht, ist er immer noch da und flattert neben ihm her, wenn er über die Wege der Provence geht. Er schwebt so hoch über ihm, daß er in der Gruft des Himmels nur ein schwarzer Punkt ist, aber da ist er. Da ist er. Er hört, wie er ihm etwas zusingt; ein simples Rätsel. Entweder ist der König der Schmerzen die erste Manifestation des Wahnsinns oder es gibt ihn wirklich.
    Vincent weiß nicht, was ihm mehr Furcht bereitet.
    Die Luftwellen wirbeln, und er ist wieder da, wieder am Strand neben dem silbernen Meer, wieder an dem Baum, dessen Blätter sowohl grünen als auch absterben, dessen Äste sowohl blühen als auch reife Früchte tragen.
    »Nein«, sagt Vincent. »Nein nein nein nein nein.«
    »Doch«, sagt der König der Schmerzen. »Aber ja. Willkommen, Vincent. Ich habe Arbeit für dich.« Und während Vincent arbeitet, dickes, herbes Blau und Gelb auf die Leinwand tupft, erzählt ihm der König der Schmerzen eine Geschichte.
     
    DIE GESCHICHTE DES KÖNIGS DER SCHMERZEN
    Meine Ära war eine Zeit großer Schönheit und noch größerer Gewalt. Es war ein Goldenes Zeitalter, in dem jeder Mensch jegliches Wissen erlangen konnte, indem er nur die Hand ausstreckte. Und mit diesem Wissen kam die Herrschaft über sämtliche Dinge, denn Wissen war Macht. Doch das Wissen brachte zugleich einen Schatten mit sich, und das war der Schatten der Angst. Denn das Wissen, das dem Menschen die Herrschaft über sämtliche Dinge verlieh, ließ sie auch so absolut über die Mächte der Zerstörung herrschen, die die Erde von jeder lebenden Seele zehnmal und öfter befreien und sie zu einer Ödnis geborstenen schwarzen Glases schmelzen konnte.
    Also lebten die Menschen ihr Leben in Reichtum und Völlerei – und im Schatten des zweiten Todes, des Todes der Spezies, der noch schrecklicher war als der individuelle Tod, und ihre hochgewachsenen, starken, wohlgenährten, gut ausgebildeten Kinder wuchsen verdreht und mit deformierten Herzen heran: Sie waren verbittert, ängstlich, den Schmerz gewöhnt. Denn selbst auf den Straßen ihrer wunderbaren Städte, selbst in ihren bequemen, mit allem ausgestatteten Heimen, kam der Schmerz zu den Goldenen Menschen und bestrafte sie: mit Verbrechen, Gewalt, Kinderschändung, Arbeitslosigkeit, Schulden, Drogensucht, Alkoholismus, Mord, Depression, Schmerz und Tod. Und währenddessen schlummerte der universelle Tod unter der Erde in seinen granitenen Hallen und drehte sich launenhaft in seinem Bett auf dem Meeresgrund.
    Das Zeitalter der Ungewißheit. So nannten die Gelehrten und Weisen stolz ihre Zeiten. Doch trotz all ihrer Weisheit gaben sie ihrer Zeit nicht den richtigen Namen, denn in Wirklichkeit war sie ein Zeitalter der Gewißheit; der Gewißheit der Schmerzen, der Gewißheit von noch mehr Schmerzen, der Gewißheit der Angst. Das Jahrhundert neigte sich seinem Ende zu, und überall auf der Welt entdeckten Männer und Frauen, daß sie einer Zukunft der Angst, der

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