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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Schmerzen, der Veränderung, der unaufhörlichen Veränderung, der Ungewißheit, nicht ins Auge sehen konnten. Also flohen sie vor ihr, an einen Ort, wo die Angst, der Schmerz und die Ungewißheit sie nicht finden konnten; sie zogen sich in sich selbst zurück. Sie gingen wieder in den Mutterschoß. Männer, Frauen und Kinder rollten sich zu kleinen Föten zusammen und zogen sich in einen Zustand der Katatonie zurück, aus dem es kein Erwachen mehr gab. Tausende, Millionen, ganze Städte und Nationen rollten sich zum Todesschlaf zusammen. Wie eine neue Epidemie drohte er die gesamte Menschheit zu erfassen, der Tod der Spezies, der so sicher und gewiß war wie die Feuer unter der Erde.
    Die größten Denker dieser Ära erforschten das ungeheure Wissen der Menschheit, um eine Lösung für das Problem der Schmerzen zu finden. Doch das menschliche Wissen war so gewaltig angewachsen, daß ein Einzelner es ebensowenig erfassen konnte wie eine Gruppe von Menschen. Man konnte es nicht mehr überschauen. Also baute man eine Maschine, eine wunderbare Vorrichtung, die das gesamte Wissen der Menschheit in all seiner Vielfalt in weniger als einem Tag in sich speichern konnte und stellten ihr die Aufgabe, herauszufinden, wo die Lösung lag. Die Maschine wartete ab. Die Maschine dachte nach. Die Maschine grübelte. Schließlich entdeckte sie, daß es für das Schmerzproblem eine Lösung gab. Und sie machte sich daran, die Antwort zu formulieren.
     
    An dieser Stelle, ohne sich festzulegen, beendet der König der Schmerzen seine Geschichte für diesen Tag und auf unbestimmte, asymmetrische Zeit, doch sie vergeht bald, und Vincent, der mit solch glühendweißer Leidenschaft arbeitet, daß sich seine Konzentration wie ein durch eine Linse fallendes Licht auf einen Punkt brennender Intensität konzentriert, hat sich in Erschöpfung gemalt. Doch der König der Schmerzen ist hocherfreut.
    »Ah, Vincent, Vincent!« ruft er aus. »Welche Schande, daß niemand außer mir dieses Werk je sehen wird!« Er öffnet mit seinen weichen Händen die Luftwellen und schickt Vincent den Maler wieder in die trockene, ockergelbe Welt zurück.
    Also bläst am nächsten Tag der Mistral über die staubigen, ockergelben Wege der Provence, über Felder und Hecken und über sich wiegende Pappeln, und er schiebt Vincent fort wie einen Strohhut an den Strand des Meeres der Ewigkeit; zu Leinwand und Farbe, und zur Fortsetzung der Geschichte des Königs der Schmerzen.
    »Gestern habe ich dir von der großen Maschine erzählt, die das Schmerzproblem löste, indem sie ins Herz des Wissens schaute. Heute werde ich dir erzählen, worin die Lösung bestand. Der Schmerz ist eine Funktion der Verantwortung. So einfach ist es. So tiefgründig. Deshalb beschloß die Maschine, die Verantwortung über alle menschlichen Angelegenheiten auf sich selbst, einen schmerzunempfindlichen, gefühllosen Automaten zu übertragen. Und das tat sie dann.
    Zu jener Zeit gab es, über die ganze Welt verstreut, viele Maschinen, die der großen Maschine ähnlich waren, wenn sie natürlich auch längst nicht mit ihren Fähigkeiten aufwarten konnten. Die große Maschine brachte ein Drähtchen von sich dazu, in sämtliche kleinere Maschinen hineinzugreifen, wo sie auch waren, und um Mitternacht, am letzten Tag des ersten Jahres des neuen Jahrhunderts, ergoß sie sich in diese kleineren Werkzeuge. Die Maschinen wurden lebendig, alle zur gleichen Zeit, überall, und die Menschheit übergab die Verantwortung über sich selbst ihnen und bat sie, jeglichen Schmerz in der Welt zu beseitigen.
    Unter der Herrschaft der Maschinen wurde der Hunger durch gleichmäßige Nahrungsverteilung abgeschafft. Kein Kind ging mehr hungrig ins Bett, und die Zahl der des Lesens Kundigen stieg in aller Welt auf hundert Prozent. Die Gesellschaft wurde veredelt und von den Schmerz-Maschinen regiert. Jeder erhielt einen ihn hundertprozentig befriedigenden Platz, jeder ehelichte seinen optimalen Partner und hatte die Kollegen und Freunde, die zu ihm paßten. Die Kinder der Neuen Ordnung wuchsen gesund und glücklich heran, sie waren stark und geistig auf der Höhe.
    Vorurteile gerieten in Vergessenheit, die Hautfarbe des Menschen war von der gleichen Unwichtigkeit wie die Farbe seiner Augen. Alte nationale Rivalitäten und Trennlinien lösten sich auf, und mit ihnen die Reibungen zwischen den Nationen. Sämtliche Beschwerden wurden von den Maschinen beigelegt, und ihr Urteil war stets fair und vernünftig. Doch ihr Urteil

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