Wassermans Roboter
Organismus und des Geistes. Körper und Geist sind in einer Zwangsjacke gefangen, in einem stereotypen Muster. Bei dem Versuch, dieses Muster zu durchbrechen, hätten wir eigentlich mit einer Reaktion rechnen müssen.«
»Du bist ein Mistkerl, weißt du das? Du glaubst, daß du die Weisheit gepachtet hast, und nimmst auf niemanden Rücksicht. Es geht hier um ein Kind, verstehst du das? Um mein Kind und dein Enkelkind! Kümmert dich das denn überhaupt nicht?«
»Mehr als du denkst«, antwortete Großvater. »Meinst du denn wirklich, daß ich nicht mitfühle? Wir werden alles Menschenmögliche versuchen, um sie aus dieser Isolation zu holen. Aber vergiß nicht, es ist eine selbstgewählte Isolation! Du glaubst, sie sei kommunikationsunfähig. Das möchte ich bezweifeln …«
Danach hatte Vater ihr regelmäßig Injektionen geben lassen. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Der Desinfektionsgeruch im medizinischen Zentrum war ihr zuwider, ebenso das Stechen der Nadel, aber ihr Vater hatte es ihr befohlen. Trotz ihres zarten Alters war Sybillia klug genug, bestimmte Aspekte der »Träume« zu verstehen, auch wenn sie nicht im mindesten deren Tragweite erkennen konnte. Sie wußte – »erinnerte sich« –, daß Großvater etwas getan hatte (während ihres Lebens oder früher?), das einen gewissen Einfluß auf sie hatte. Vielleicht rief dieses mysteriöse Etwas die »Worte, die nicht gesprochen wurden«, und die »Träume« hervor. Es war doch wirklich Großvater gewesen, mit dem sie in jenem allerersten wahren Traum geredet hatte. Später waren mehr Träume gekommen und auch die »Worte, die nicht gesprochen wurden«.
Jetzt wußte sie, daß diese »Worte« eine Art von Erinnerungen waren, jedoch nicht ihre eigenen. Es waren Erinnerungen von Vater und Großvater, und das war sehr merkwürdig. Großvater war tot, wie konnte sie dann seine Erinnerungen haben? Manchmal stammten diese »Worte« auch von anderen Menschen, die sie überhaupt nicht kannte, und meistens waren die »Worte« verschwommener, irgendwie unwirklicher, nicht so deutlich wie die von Vater und Großvater. Manchmal begegnete Sybillia sich selbst in diesen Scheinerinnerungen. Das erste Mal hatte sie Schwierigkeiten gehabt, sich wiederzuerkennen. Es war sehr merkwürdig und auch ein wenig beängstigend, sich selbst durch die Augen und Gedanken anderer zu sehen. War sie das wirklich, dieses magere Mädchen mit den hohlen Wangen und den leeren Augen? Sahen andere sie tatsächlich so? War das vielleicht der Grund, weshalb sie hier so abgelegen wohnten und weshalb nie ein anderes Kind zu Besuch kam?
So viele Fragen, auf die Sybillia keine befriedigenden Antworten geben konnte. Mittlerweile versuchte sie es auch nicht mehr. Sie vermied, so gut es ging, Fragen zu formulieren. Wenn sie zuviel nachdachte, wurden ihre Gedanken von einer entsetzlichen Unruhe erfüllt. Sie konnte dann nicht mehr stillsitzen und lief in ihrem Zimmer hin und her oder um das Haus herum, immer im Kreis wie ein gefangenes Tierchen, das vergeblich versucht, die unsichtbaren Gitter seines Gefängnisses zu finden, um auszubrechen. Das dauerte meist so lange, bis ihre Mutter sie anfuhr, daß es ihr »auf die Nerven gehe«. Dadurch wurde Sybillias Geisteszustand nur noch verschlimmert: Die Aufregung wich einer Niedergeschlagenheit, einer tiefen Trauer, aus der sie ebenfalls keinen Ausweg wußte. Die Trauer staute sich an und hinderte sie nachts daran, einzuschlafen und in Vergessen zu versinken, obwohl sie sich mit ganzer Seele danach sehnte.
Sybillia hatte auf ihre unbeholfene Art versucht, es ihrer Mutter zu erklären. Sie hatte gelispelt und größtenteils unverständliche Worte gestammelt, unterstrichen durch heftige Gebärden. Doch Sybillias Unfähigkeit, sich verständlich zu machen, brachte ihre Mutter nur zur Raserei. Deshalb versuchte sie es später gar nicht mehr. Trotzdem sagte Mutter manchmal, daß sie sie liebe. Doch warum konnte sie Sybillia dann nicht verstehen und ihr helfen, wenn sie es brauchte?
Marleen ging nun völlig in ihrer Rolle im Feuilleton auf. Als Teilnehmer von außerhalb hatte sie die Wahl zwischen etwa fünf Rollen, die in dieser Sendereihe speziell für Mitspieler entworfen waren. So etwas war ein teurer Spaß; beim normalen Holo-Abonnement-Tarif erhielt man nur eine einzige Rolle, die dazu vom Sender selbst festgelegt wurde und die eigene Kreativität sehr stark einengte. Wenn man jedoch einen ansehnlichen Betrag bezahlte, konnte man auch bessere
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