Wassermans Roboter
zum medizinischen Zentrum mitgenommen, und er hatte ihr versichert, daß sich das Kind nach wenigen Wochen oder Monaten verändern werde, daß Sybillia normal werden würde. Doch diese Hoffnung hatte Marleen schon vor langer Zeit aufgegeben.
Trotzdem liebte sie das Mädchen, sie konnte nicht anders; immerhin war es ihre Tochter. Doch das machte alles noch schlimmer. Was sollte sie tun, wenn der Zehnjahresvertrag abgelaufen war? Wenn sie Ludwig dann verließ, konnte sie natürlich mit Unterhaltszahlungen rechnen und brauchte nie mehr auch nur noch einen einzigen Handschlag zu tun. Aber was sollte sie mit Sybillia anfangen?
»Das Essen ist gleich fertig«, sagte Marleen. Sybillia reagierte nicht. Marleen zuckte die Achseln. In der Talkshow wurde gerade diskutiert, welcher der drei Päpste wohl zum Heiligen Vater der Siriuswelten gewählt werden würde. Marleen schaltete auf ein Feuilleton um. Es handelte von einer steinreichen Familie, die politische Verbindungen zu einer verbotenen Kultur unterhielt, was zu ernsten Konflikten zwischen den Familienmitgliedern führte. Marleen optierte für die Mitspielrolle einer der Enkelinnen. Das bereute sie sofort, denn der Großvater des Feuilletons lag im Sterben. Es erweckte in Marleen Erinnerungen an Sybillias merkwürdiges Verhalten damals … Das war eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, bei denen Sybillia selbst Kontakt mit ihren Eltern aufgenommen hatte. Marleen und Ludwig waren in eine Feuilletonsendung vertieft gewesen, in der sie beide eine Rolle übernommen hatten. Plötzlich war Sybillia zu ihnen gekommen und hatte gesagt: »Großvater ist tot.«
Das Kind hatte keine weitere Erklärung abgegeben, sondern lediglich die Tatsache festgestellt, von der sie eigentlich gar nichts hätte wissen können. Erst Stunden später war die Bestätigung gekommen: Der alte Sternenstaub war friedlich verstorben, während sich sein Raumschiff der Venus näherte. Marleen hatte lange mit Ludwig darüber gesprochen, ohne daß sie eine Erklärung hatten finden können.
Vielleicht hatte Marleen von der einzig möglichen Erklärung nichts wissen wollen. Oder vielleicht hatte Ludwig mehr gewußt, als er ihr gesagt hatte. Doch Marleen hatte aufgehört, sich darüber Sorgen zu machen. Sie vertiefte sich in ihre Rolle.
Sybillia sah die Gestalten, die ihre Mutter in einem Rollenspiel umschwirrten, an dem sie nicht das geringste Interesse hatte. Der ganze Raum erschien ihr ebenso unwirklich wie das Holo, in das ihre Mutter vertieft war. Sybillia fühlte sich von dem herannahenden Traum gefangen. Es war genauso wie damals bei Großvater, wie bei jenem ersten Mal …
Sie wußte nicht, wie alt sie damals war. Es war schon lange her, doch wie alle diese Träume war auch dieser unauslöschlich in ihrer Erinnerung eingeprägt. Sie hatte Angst gehabt und gleichzeitig auch wieder nicht, als ob sie schon damals gespürt hätte, daß es etwas außerhalb ihrer selbst war, etwas, das ihr persönlich nichts anhaben konnte. Sie hatte sich gefühlt wie vom Netz einer venusianischen Grottenspinne umhüllt, und gleichzeitig hatte sie gewußt, daß es nur die ultraerleuchteten Schwebedecken ihres Schlafbretts waren. Und doch war es ihr so vorgekommen, als hätten sich die Laken um sie herum bewegt und sie fester umhüllt, als sie es eigentlich hätten tun dürfen. Sie hatten sich kälter angefühlt und wie aus Gummi. Sybillia hatte die Augen geöffnet, und durch die Fensterdecke ihres Schlafzimmers hatte sie mehr Sterne gesehen als gewöhnlich, und anders angeordnet waren sie auch gewesen. Dann hatte sie andere Formen entdeckt, nicht die Formen draußen, die sie durch die Zimmerdecke sehen konnte, sondern Formen, die mit der Zimmerdecke, den Mauern und den Möbeln ihres Zimmers verwoben waren. Ihr Wandschrank war zu einer Instrumentenwand mit vielen Skalen, flackernden Lichtern und Konsolen geworden. Doch merkwürdigerweise hatte Sybillia ihren Schrank noch sehen können: er war mit der Instrumentenwand verwoben gewesen. Da hatte sie verstanden, daß sie träumte. Dieser Wachtraum war sehr seltsam gewesen – denn sie war sich ganz sicher, daß sie hellwach war. Außerdem, wenn man träumte, wußte man nicht, daß man träumte, also mußte dies wohl eine Art Wirklichkeit sein.
Sie war sich eines vagen Drucks in ihrem Kopf bewußt geworden, nicht direkt Kopfschmerzen, sondern eher die Vorboten davon. Der Druck war stärker geworden, doch es hatte nie wirklich wehgetan. Eher war es so, als würde sie die
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