Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
Nebenrollen bekommen, in die man sich – im Rahmen des Feuilletons – wirklich einfühlen konnte. Geld war kein Problem für Marleen. Sie konnte ihren Unit auf nicht weniger als fünf verschiedene Rollen einschalten, darunter sogar eine Hauptrolle. Der Sendeunit paßte das äußerst flexible Szenario speziell für sie an die Rolle ihrer Wahl an. So flüchtete Marleen sich in Träume voller Romantik, Ruhm und Gewalt, so wie Ludwig seine eigenen Träume zwischen den Sternen verwirklichte und Sybillia ihre Träume …
    Marleen fiel fast aus ihrer Rolle, als sich ihr der Gedanke an Sybillia aufdrängte. Manchmal fragte sie sich, welche Träume das Kind wohl haben mochte. Jedes Kind träumte doch von irgend etwas, aber Sybillia … Marleen hatte es aufgegeben, verstehen zu wollen, was sich hinter Sybillias emotionslosem Gesicht verbarg, welche seltsamen Gedanken hinter diesen leeren Augen herumspukten. Manchmal, wenn Sybillia so nervös wurde und später zu Tode betrübt in einer Ecke saß und vor sich hin starrte, versuchte Marleen, sie zu trösten, aber selbst dann fühlte sie sich von der regelmäßigen Haltung des Kindes abgewiesen. Irgendwie wußte Marleen, daß dies teilweise ihre Schuld war. Sybillia machte, daß sie sich schuldig fühlte, weil sie ein schwachsinniges Kind in die Welt gesetzt hatte. Vielleicht hatte Ludwig deshalb seine Stelle gekündigt und war Raumpilot geworden. Versuchte er, sein Versagen dort zu vergessen? Schließlich war er als Vater ebenso für Sybillia verantwortlich wie sie als Mutter. Versuchte er zwischen den Schatten ferner Welten seine Schande vor sich selbst zu verbergen? Sie hatten sich allesamt voneinander entfremdet. Marleen hatte schon daran gedacht, Sybillia in eine private Anstalt zu schicken, wo sie von Experten untersucht werden könnte, die vielleicht mehr für sie tun konnten als sie selbst. Aber damit hätte sie ihre Schuld bekannt. Sie hätte zugegeben, daß sie dem Kind nicht helfen konnte.
    Diesen Gedanken würde sie nie ertragen können. Außerdem wäre sie dann ja auch ganz allein im Haus, allein mit den Holofiguren, diesen körperlosen Wesen, die ihr Gesellschaft leisteten. Wenn Ludwig zurückkam, mußte sie mit ihm darüber reden. Sie mußten eine Lösung finden. Manchmal jagte es ihr Angst ein, wenn sie das Kind so dasitzen sah.
    Die Holos waren erstarrt, und Marleen bemerkte, daß sie aus ihrer Rolle gefallen war. In diesem Moment hätte sie eine Antwort geben müssen, aber die fiel ihr nicht ein.
    Sie schaute zu Sybillia hinüber. Das Mädchen saß vornübergebeugt auf ihrem Stuhl und wiegte sich sanft hin und her. Ob sie schlief? Nein, ihre Augen waren offen. Diese ins Leere starrenden Augen waren für Marleen eine ständige Anklage.
    »Wir essen in zehn Minuten, Sybillia«, sagte Marleen sanft.
    Draußen rollte der Donner. Das Unwetter kam näher.
    Marleen zuckte die Achseln und wechselte die Rolle. Sie schüttelte ihre eigene Persönlichkeit wie eine zweite Haut von sich ab und stürzte sich erneut in die Abenteuer des Feuilletons. Die Holos erwachten zu neuem Leben.
     
    Für Sybillia erwachten die Wände zum Leben. Ohne daß sie es merkte, gruben sich die Nägel in ihre Handflächen. Der Todestraum entfaltete sich um sie herum. Sie spürte … sie wußte, daß es diesmal schlimm werden würde. Es jagte ihr große Angst ein. Trotzdem konnte sie sich nicht entziehen. Dies war keine Scheinerinnerung. Sie verspürte den gleichen Druck in ihrem Kopf wie damals bei Großvater … nur schlimmer. Der Druck schien ihren Kopf von innen zu spalten. Er drückte ihr fast die Augen aus den Höhlen. Die Zunge in ihrem Mund schwoll an und klebte trocken an ihrem Gaumen. Sie konnte sich nicht mehr rühren, ihre Muskeln waren fest und angespannt. Mutter war nun ebenso transparent wie die Holos um sie herum. Die Wände setzten sich in Bewegung, krochen von allen Seiten auf Sybillia zu. Die Decke senkte sich, bis Sybillia sich in einem viel kleineren Raum befand. Durch die Wände konnte sie Sterne sehen, fremdartige Konstellationen, und dunkle Flecken im Raum. Neben ihr erschien ein Geist, der mit einem Brenner hantierte. Zwei der Wände enthielten komplizierte Instrumentenkonsolen, aus denen bunte Drähte wie Eingeweide heraushingen.
    Dann befand sich Sybillia im Herzen einer Sonne. Das Licht war so grell, daß es ihr fast die Augen versengte, aber es tat trotzdem nicht weh, und sie sah auch keine bunten Pünktchen, als das Licht wieder verschwand. Die gleiche

Weitere Kostenlose Bücher