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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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einem Augenblick plötzlicher Ungeduld sagt er: »Die Leute sagen, du seist verrückt, Vincent. Sie nennen dich ›den verrückten Holländer‹.« Das strömende Feuer des Glaubens läßt in Vincents Augen nach. Seine Hände erstarren im Flug. Seine Seele wird dunkel, als hätte eine Wolke die Sonne verdeckt. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck wehen Verrats. Paul bedauert seine Impulsivität.
    »Wenn es stimmt, Vincent, dann sind wir alle verrückt, ein jeder von uns, bis zum letzten Mann. Beseelt von einer beneidenswerten Verrücktheit – dem Wahnsinn, der uns dazu treibt, Künstler zu sein.«
    Die Wolken verschwinden vom Angesicht der Sonne. Ein seltenes Lächeln blitzt auf.
    »Beneidenswerter Wahnsinn, Monsieur? Beneidenswert, in der Tat!«
    Und so malen sie zusammen. Wenn das Wetter gut ist, nimmt Vincent Paul mit hinaus auf die Feldwege der Provence und zeigt ihm die knorrigen Zypressen, die wie grüne Flammen wirken, und die weißen Steinmauern und roten Dörfer. Er bemüht sich, in Paul den Funken der gleichen Vision der Sonne zu erwecken, der in ihm brennt.
    »Die Sonne, Paul, die Sonne, alles kommt von der Sonne, sie ist das Zentrum des Seins, um das unser kleines Leben kreist.«
    Paul nickt dazu, aber er versteht nichts. Und Vincent hört eine zweite Stimme, die in seinem Innern sagt: »Wirklich? Ist es tatsächlich so? Ich habe Zeit, Vincent, viel Zeit, wenn Paul gegangen ist; und er wird gehen; dann habe ich dich ganz für mich.«
    Dann sind da die Tage, an denen das Wetter nicht gut ist. Wenn das Angesicht der Sonne verborgen ist, malen sie im Haus. Sie malen einander, sie malen sich selbst, sie malen die Räume, in denen sie leben, die Sessel, auf denen sie sitzen, die Pfeifen, die sie rauchen; sie malen sich selbst als Gott und Teufel auf dem Innern der Tür von Vincents Garderobenschrank. Als sich das Jahr dem Ende nähert, wird das Wetter immer feindseliger, und die Möglichkeit, draußen zu arbeiten, immer geringer.
    Die Beschränkung auf das Haus macht Vincent streitsüchtig. Immer wieder arten seine Wortgefechte mit Paul über Kunst und Kunstfertigkeit in eine Rage aus, die beide Männer hinausstürmen läßt, um den Trost der eigenen Gesellschaft zu suchen. Jeden Tag wird die Atmosphäre im Haus der Freunde bitterer. Paul ist längst klar geworden, daß Arles, was immer der Ort für Vincent auch bedeuten mag, für ihn nichts ist. Vincent weiß, daß Paul den Pazifik vor Augen hat: Er will wieder gehen, und wenn er wieder geht, lösen sich alle Hoffnungen, die er sich wegen der Künstlerkolonie gemacht hat, auf.
    Und während dieser ganzen Zeit schwebt der König der Schmerzen wie abgetrennte Zellen in dem sich fügenden Hulor und dem ihn umgebenden Wahnsinn.
    In einer Nacht kurz vor Weihnachten stapft Vincent nach einem wütenden Krawall aus dem Haus. Er setzt seinen Hut auf und zieht den Mantel an, und geht, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wohin. Er will nur fort vom Gelben Haus. Sein heißblütiges Temperament und das drohende Versagen treiben ihn aus dem Ort, vorbei an leeren Feldern und mondbeschienenen Zypressen, die ihm so vertraut sind wie seine eigenen Hände. Über ihm hängen die Konstellationen des Winters, sie hängen im Gleichgewicht, wie fallende Pfeile. Er wendet das Gesicht dem Himmel zu und spürt das Schwingen und Schwimmen des ihn umgebenden unendlichen Raums, als wäre er, Vincent, derjenige, der die Achse ist, die das Universum rotieren läßt. Drehend, drehend, drehend, Vincent wird von der Massenträgheit der stellaren Bewegung weitergezogen. Er dreht sich unter dem sich drehenden Himmel, und die Sterne greifen mit großen Wagenrädern aus Licht herab, um ihn zu zerschmettern.
    »Ergib dich«, sagt die Stimme in seinem Innern. »Ergib dich! Gib dich dem Wahnsinn hin! Ergib dich, schließe Frieden! Gib dich auf!«
    »Nein!« schreit Vincent. Er bleibt ruckartig stehen. »Nein! Niemals!« Der Himmel dreht sich von ihm weg, und er ist da. Am Strand. Am Meer. Unter dem Raum.
    Der König der Schmerzen sitzt da, die Knie bis an die Brust gezogen. Sein Kopf lehnt sich nach hinten, gegen den Stamm. Er begutachtet die Sternbilder.
    »Hallo, Vincent«, sagt er. »Komisch, wie die Zeit vergeht. Sogar die asymmetrische Zeit.«
    »Das ist doch Wahnsinn!« ruft Vincent abweisend aus. »Das ist doch alles nicht real!«
    »Wahnsinn ist es ganz gewiß«, stimmt der König der Schmerzen ihm zu. »Real? – Nun ja, das bedeutet hier nichts. Doch der Schmerz ist real; und was

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