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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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ist realer als der Schmerz, Vincent? Dein Schmerz? Nimm Platz! Ich habe etwas für dich.«
    Vincent nimmt Platz.
    Der König der Schmerzen mustert den Himmel.
    »Ich habe dich nie für deine Arbeit entlohnt, Vincent.«
    »Ich habe das Werk nie beendet.«
    »Ein König kann es sich leisten, so großzügig wie uneinschätzbar zu sein. Sag mir, erwartest du, daß Paul noch länger bleibt?«
    »Was weißt du von Paul?«
    »Aufgrund der Erinnerungen der Hohen und Strahlenden ist mir die gesamte menschliche Geschichte geläufig. Paul hat sein Tahiti, wie du noch erkennen wirst, so wie du dein Japan hattest und nun die Provence hast. Sag mir, Vincent, was fürchtest du am meisten?«
    Die Antwort ist ausgesprochen, bevor eine Lüge sie bedecken kann.
    »Wahnsinn. Angst. Schmerz. Dich.«
    »Aha. Aber bin ich nicht der König dieses Wahnsinns, dieser Angst, dieser Schmerzen? Es ist nur passend, daß ich dich für deine Arbeit entlohne, und zwar in königlicher, obhütender Münze. Und so werde ich dich entlohnen: Ich habe erst kürzlich meine Kräfte verfeinert, habe Pläne und Programme entworfen, kleine Experimente gemacht. Ihre exakte Natur ist natürlich etwas, das dich nichts angehen darf. Es reicht, wenn ich sage, daß deine Entlohnung aus einem Teil meiner Ausarbeitung besteht.«
    Flink wie ein Reptil fährt die Hand des Königs der Schmerzen über eine Seite von Vincents Hals, und Vincent spürt, daß sich dort etwas reptilhaft schlängelt und in seinen Kopf hineinschießt.
    »Ich habe dich mit einem der Hohen und Strahlenden versehen, nur ist dieses Implantat andersartig, das erste einer neuen Generation. Du bist einmalig, Vincent, du bist ein Prototyp, der erste Mensch, der vom Schmerz befreit ist. Verstehst du, was ich tue, Vincent? Ich modifiziere jene Zonen deines Hirns, die Schmerz verspüren, und zwar deswegen, damit du nie wieder Schmerz erfährst – und auch keine Angst oder erneuten Wahnsinn. Nur Farben, Vincent, nur die Farben der Augen Gottes.«
    Die Welt öffnet sich vor Vincent wie eine in voller Blüte stehende Sonnenblume, und er befindet sich wieder unter den wirbelnden Sternen. Erneut wendet er ihnen das Gesicht zu, doch diesmal sind das verrückte Schwindelgefühl und der sprudelnde Wahnsinn nicht da; da sind nur Licht und Farben einer Art, die er nie zuvor gesehen hat.
    Am Morgen steht er vor dem Waschbecken und beißt sich mit Absicht in den kleinen Finger. Er beißt, bis das Blut fließt, bis seine Zähne auf Knochen stoßen. Er verspürt keinen Schmerz, nicht das kleinste Zucken, nur Farben, helle, schwingende Farben, als sähe er die Welt im Licht einer echteren, höheren Sonne.
    Beim Mittagessen verbrennt er sich ziemlich schlimm die Hand an der Ofentür. Die Blasen lassen Paul seinen Sarkasmus vergessen, doch Vincent sieht nur Farben, so herrliche Farben, die Farben der Augen Gottes.
    Am Nachmittag nimmt Vincent eine Leinwand und malt draußen in der bitterkalten Dezemberlandschaft. Die schneidende Kälte, der dünnrandige Wind intensivieren die Farben nur noch, die er mit den Augen seiner Seele sieht. Sogar Pauls Sarkasmen umschweben an diesem Abend wie kleine goldene Heiligenscheine die Öllampen. Die scharfen Worte bedeuten Vincent nichts. Nur die Freiheit zählt. Die Freiheit vom Schmerz. Die Freiheit von der Angst. Und die Freiheit vom Wahnsinn.
    »Paul, glaubst du, daß der Schmerz einen Zweck erfüllt?«
    Es ist Heiligabend. Die Holzscheite im Herd erfüllen den Raum mit einer blassen, winterlichen Imitation der Sonne. Unter der Vortäuschung von Frieden bauen sich Spannungen auf. Vincent weiß, daß Paul allmählich die Geduld verliert – mit ihm, mit Arles, mit der Provence. Er wird bald wieder gehen. Es wird keine Künstlerkolonie geben. Es müßte Vincent eigentlich mit Furcht und Einsamkeit erfüllen, doch er spürt nur den warmen Regenbogenglanz, der die Seele erwärmt, sowie das Feuer den Körper.
    »Nein. Der Schmerz kommt, die Freude kommt, es ist wie ein Fluß. Wer kann schon sagen, was der Fluß demnächst mit sich bringt? Wir sind nur stromaufwärts reisende Fische, die gegen den Schmerz, die Freude und alles andere anschwimmen, und am Ende der Reise sterben wir.«
    »Was würdest du sagen, wenn ich dir erzählen würde, daß es einen König der Schmerzen gibt, der uns von einem fernen Ort aus beobachtet, und daß seine Aufgabe darin besteht, uns die Bedeutung des Schmerzes nahezubringen?«
    »Ich würde sagen, es ist eine grauenhafte Vorstellung.«
    »Aber was würdest du

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