Wassermans Roboter
Strahlenden waren zurückgekehrt, getreu ihrer Pflicht, eine Lösung zu finden, eine humane Lösung des Schmerzproblems.«
Das war die Geschichte des Königs der Schmerzen.
Während der ganzen Zeit, in der er dem Maler Vincent seine Geschichte darlegt, hat Jean-Michel Rey seine Lösung des Schmerzproblems, sein Einziges Gesetz, ausgeteilt. In die gleichen Hirn-Maschinen hineingreifend, die ihm die Gedanken von elf Milliarden Menschen bekanntmachen, fertigt er durch sie einen Strick aus Leid und Bestürzung um einen unreifen, unwissenden Jungen, der seine schwangere Geliebte in den Straßen von Sao Paulo allein zurückläßt; räumt mit einer abscheulichen, langsam einsickernden Geschlechtskrankheit unter einer Gruppe von homosexuellen Prostituierten auf, die den Ruin eines unwichtigen diplomatischen Funktionärs aus Norwegen planen, und schlägt einen Nagel sexuellen Schuld- und Angstgefühls in einen Angestellten einer Fluglinie aus New York City, der am sexuellen Mißbrauch fünfjähriger Mädchen beteiligt war; er langt ins Herz hinein, um im Herzen zu strafen: Jean-Michel Rey, gefangen an einem endlosen Silberstrand in den Maschinen, die die Welt beherrschen.
Den ganzen Sommer lang malt Vincent für den König der Schmerzen. Trotz der Sonnenkraft, die ihn erfüllt, trotz des Lichts, das aus ihm herausstrahlt und in alles geht, was seine Hände berühren, ist er überschattet von Furcht. Furcht vor dem Wahnsinn, Furcht vor dem, daß das Unmögliche wahr ist; Furcht, daß es nicht wahr ist. Er schreibt diese Befürchtungen in großen, engen Buchstaben an Theo nieder, Seite für Seite, die gefüllt sind mit kleinen, skizzenhaften Bildchen von Bauern unter Zypressen, Königen unter Kirschbäumen und großen, weltenfressenden Maschinen, die ganz aus Roheisen und Gleitventilen und öligem Dampf bestehen, an die er sich aus seinen finsteren Predigertagen in Borinage und Niederbelgien erinnert.
Die Tage, als es noch leicht war, zu glauben.
Er schickt diese Briefe nicht ab.
Statt dessen bittet er um Gelb, mehr Gelb, schick mir mehr Gelb, und Bruder Theo schreibt in spöttischer Verzweiflung aus Paris zurück: »Liebster Vincent, es gibt in ganz Paris nicht genügend Farbe, um dich mit Gelb zu versorgen! Armer Pere Tanguy: der alte Anarchist, ich bitte ihn um Gelb, doch alles, was er sagen kann, ist: ›Sag deinem verrückten Bruder, er soll die Sonne mit einem Stößel zerreiben und dann mit Mörtel verbinden, damit sie das Gelb ergibt, das er benötigt!‹«
Vincent lächelt. Dann, von der Sonnenenergie angetrieben, malt er weiter, das konkrete, weltliche Gesicht der Provence und seiner Bewohner. Es ist gut für ihn, wieder reale Dinge zu malen. Es bindet ihn eng an die Welt und die geistige Gesundheit, so daß er, wenn er in der abendlichen Kühle des Gelben Hauses sein Tagwerk mustert, sagen kann: »Ja, das habe ich gewollt, dies sind die Landschaften des Herzens.«
In seinem nächsten Brief schreibt Theo: »Paul sagt ja! Vincent, ich kann es nicht begreifen! Nach Monaten des Drängens habe ich ihn endlich von seinen schweinegesichtigen Bretonen fortgelockt! Du wirst deine Künstlerkolonie also doch noch bekommen! Paul sagt, du sollst Anfang Oktober mit ihm rechnen. Er wird in Kürze den genauen Termin seiner Ankunft bekanntgeben.«
Paul kommt also doch. Vincent ballt triumphierend die Hände zu Fäusten und hat das Gefühl, als bekäme er seine geistige Gesundheit wieder in den Griff.
Oktober. Die Bäume sind kahlgefegt. Das Land liegt wie ein Schwein unter dem Messer da. Der graue Wind läßt die Schlagläden rattern und türmt in allen Ecken abgestorbene Blätter auf. Die Gäste im Café L’Alcazar haben wegen des sich ankündigenden Winters die Veranda verlassen. Sie spielen Domino und trinken ihren Wein drinnen am Ofen. Sie kennen den Oktober. Sie respektieren ihn. Der Oktober bringt Wind und Regen und kalte Nächte. Und Paul.
Im treibenden Regen trifft Vincent Paul vor dem Zug aus Lyon. In dem Enthusiasmus, mit dem er die Beutel und Mappen des Künstlers nimmt und ihn zum Gelben Haus bringt, ist eine fast kindliche Hingabe.
»Sieh mal, Paul, hier ist das Café, dort ist der Platz, hier ist der Markt.« Paul schaut sich um und sieht einen provinziellen Ort in herbstlichem Regenwetter. Als er seinen Mantel vor dem Feuer trocknet, lauscht er halb Vincents predigenden Monologen und beobachtet den Flammenschein, der auf dem schmalen Gesicht und den tanzenden Händen seines Gastgebers spielt. In
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