Wassermans Roboter
eine einzelne Kirsche.
»Hier ist er, Vincent; das ist alles, was ich dir genommen habe. Denn nach den Gesetzen der Hohen und Strahlenden geht nichts verloren, das je erschaffen wurde. Es wird nur für eine Weile beiseitegelegt, und dann wiedergefunden. Hier, in dieser Frucht, befinden sich aller Gram und alle Verzweiflung, ja, sogar der Wahnsinn, den ich von dir genommen habe. Nimm sie! Sie gehört dir.«
Der König der Schmerzen geht auf Vincent zu und zeigt ihm die Kirsche, die auf seiner Handfläche ruht. »Hab keine Angst, sie ist nicht so bitter, wie du vielleicht glaubst. Sie ist sogar ziemlich süß; so süß, daß keine andere Süße und kein Entzücken sich damit vergleichen läßt. In ihrer Süße liegen Leid, Gram und Wahnsinn. Mach weiter, Vincent! Du bist mutiger als ich. Du könntest ein Universum akzeptieren, das Schönheit und Schmerz zugleich aufweist. Ich könnte es nicht, und indem ich das eine ausgemerzt habe, habe ich auch das andere zerstört. Nimm sie, Vincent! Du hast ein Recht darauf.«
»Ich habe ein Recht darauf«, sagt Vincent. Er legt die Kirsche auf seine Zunge. Er beißt in ihr Fleisch. Und ein ekstatischer Sturm durchfegt ihn, ein Sturm, der sich in die Leere ergießt, wie ein Kind, das gerade geboren wird, sich in die Welt der Liebe und des Lichts hineindrückt. Es ist, als flöge er mit der Schnelligkeit des Regenbogens über eine endlose Leinwand.
Und er ist erhöht. Erhöht an einen Ort, der höher ist als er selbst, und er hat einen Ausblick auf sämtliche Zeitalter der Menschheit und ihren eitlen König der Schmerzen. Ein paar flammende Momente lang geht er vor den Pavillons der Hohen und Strahlenden auf der Unendlichen Erhöhten Ebene einher. Er versteht sie nicht. Sie verhöhnt das menschliche Begriffsvermögen, und bei dem Versuch, den Ort dieser Mächtigen zu umrunden, tappt er am Rande des Wahnsinns entlang und stolpert mit einem Aufschrei auf den Abgrund zu.
Dann wirbeln die ihn umgebenden Luftwellen, und er kniet auf dem Abhang eines kalten Hügels und überschaut die rotgedeckten Dächer eines Dorfes. Er versteht alles. Das Gras unter seinen Knien ist feucht; es hat kürzlich geregnet, obwohl Vincent selbst ziemlich trocken ist. Er schaut auf und sieht die reine, karge Schönheit des Windes, der dem Regen folgt. Er sieht die Sonnenstrahlen, die durch die grauen Wolken brechen, um die braunen Hügel zu berühren und zu verwandeln. Vincent sieht sie sich an und erfährt den Schmerz. Freudentränen laufen über seine Wangen.
Im Frühjahr 1890 kommt Vincent mit einer Tasche voller Papiere nach Auvers-sur-Oise. Er hat einen seltsamen Ausdruck im Gesicht, der gleichermaßen Kummer und Freude ausdrückt, und sein Herz ist voll von schwerer, brütender Unausweichlichkeit, wie Sturmwolken, die sich über den Kornfeldern auftürmen. Er sieht hager und abgearbeitet aus. Seine Augen zeigen einen Anflug schmerzlichen Betrogenseins. Er sieht aus wie ein Mensch, der gerade erfahren hat, was es heißt, Mensch zu sein. Er sieht aus wie ein Mensch, der vor seinem Untergang steht.
»Verlassen Sie diesen Ort für eine Weile«, hat Dr. Guilefoy in St. Remy gesagt.
»Geh nach Norden, vielleicht nach Auvers-sur-Oise, es wird dir dort gefallen«, hat sein guter Freund Emile gesagt.
»Komm zu uns und bleib eine Weile bei uns«, hat sein Bruder Theo gesagt. »Besuch ein paar alte Freunde; entspann dich!«
Also ist Vincent in den Norden gegangen, nach Paris, wo Theo ihn mit großartigen Neuigkeiten begrüßt hat.
»Vincent, du hast ein Bild verkauft! Dein erstes! In Brüssel, deinen Rotweinstock bei Montmajeur, für vierhundert Francs! Vincent, das ist der Anfang! Das erste von vielen!«
Doch Theos hemdsärmelige Zuversicht hat Vincents Ring der Isolation nicht durchdringen können. Er hat gewußt, daß dies nicht der Anfang ist, sondern der sich leise ankündigende Beginn des Endes. Er hat den wahren Zustand der Welt gesehen, und er war schrecklich. Er ist der Verhältnisse auf dem Montmartre rasch müde geworden: Was haben sie getan in den zwei Jahren, in denen er nicht bei ihnen war? Sie haben in den gleichen Sesseln an den gleichen Tischen in den gleichen Lokalen gesessen und mit den gleichen gepuderten Huren herumgetollt und geflirtet. Ihr Geschwätz hat ihn gelangweilt. Sie wissen nichts. Je mehr die Dinge sich ändern, desto mehr bleiben sie die gleichen. Vincent ist glücklich gewesen, Toulouse-Lautrec, Aurier, Signac und Bernard – sogar den alten Camille Pizarro –
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