Wassermans Roboter
Selbstgerechtigkeit. Ich kann nicht einmal anfangen zu beschreiben, welchen Ekel ich angesichts dessen verspüre, was du mit deinem Volk tun willst, ganz zu schweigen von meiner Entrüstung über die Spiele, die du mit mir gespielt hast. Und jetzt kommst du und sagst mir, daß ich sterben muß, hier und jetzt, weil du es so gesehen hast. Ich nehme an, daß Dinge wie das Sterben für Wesen wie dich nicht viel bedeuten. Ich nehme an, für dich ist es nur eine Art kosmischer Witz.«
»Vincent, ich habe dich nie belogen. Es kümmert mich, Vincent; es kümmert mich wirklich.«
»Oh, nein nein nein, es kümmert dich nicht. Du bist nicht dazu geeignet, Gott zu sein. Ich könnte dir die Krone entreißen, wenn ich wollte, weil du Macht ohne Verpflichtung hast und Wissen ohne Weisheit, und Nächstenliebe ohne Mitgefühl. Du bist nicht dazu geeignet, Richter, Geschworene und Henker zu sein; du weißt nichts, nichts von den Schmerzen, die du regulierst. Du bist ein Feigling, Jean-Michel Rey, du rechnest nicht damit, daß dein Volk dich haßt, weil du tun würdest, was die Weisheit verlangt, deswegen zwingst du es, dich zu lieben. Du bist ein aufgeblasener, käuflicher Narr.«
»Bist du fertig?« sagt der König der Schmerzen defensiv, stolz und gereizt. »Bist du jetzt fertig? Selbst wenn du es nicht bist, es ist mir gleich. Sag, was du möchtest, es kümmert mich nicht. Es kümmert die Welt nicht, denn dies ist die Zeit zum Sterben, hier auf diesem Feld, und was geschrieben steht, steht geschrieben. Ich bin der König der Schmerzen, und wer könnte mich entthronen?«
»Ich«, sagt Vincent, der eigensinnige Holländer. »Ich, ein Mensch, der die Wahrheit von Schmerz und Schönheit kennt, der weder schwach noch stolz ist, ein Mensch, der die Weisheit der Hohen und Strahlenden berührt hat und gering genug ist, sie anzuerkennen; ein mitfühlender, lebender, atmender, Schmerz fühlender Mensch. Ich. Du sagst, dies sei die Zeit zum Sterben, du sagst, es müsse einen König der Schmerzen geben: Einer muß sterben, einer muß König sein. Was geschrieben steht, sagst du, steht geschrieben. Aber du sagst nicht, in wessen Hand es geschrieben steht.«
Vincent zieht seine langläufige Vogelflinte aus dem Versteck, und mit einer raschen, eleganten, ja kunstvollen Bewegung schießt er dem König der Schmerzen durch die Brust.
Der König der Schmerzen stößt ein leises Husten aus, dann einen leisen Seufzer. Dann zeigt sich der Blick schrecklicher Erkenntnis auf seinem Gesicht: der glasige, uralte Blick desjenigen, der Schmerzen empfindet. Vincent krümmt sich und läßt die rauchende Waffe zu Boden fallen. Über den beiden Männern ist das Sturmgeräusch schlagender Schwingen zu hören, als die Vögel herabstoßen, ziellos umherirren und dann in hellen Scharen herbeiströmen.
»Was geschrieben steht, steht geschrieben«, sagt Vincent. Und dann geschieht das Allerseltsamste. Das Gesicht des tödlich verwundeten Königs der Schmerzen, sein Leib, seine Hände, seine Kleider; alles verändert sich, alles schmilzt, alles rinnt und fließt in die Konturen, die Vincent seit der allerersten Nacht, seit der König der Schmerzen in seine Träume eingetreten ist, zu erblicken fürchtet. Seine eigenen. Denn nichts geht verloren, doch manches wird erreicht, und Dinge, die weg sind, werden nur für eine Weile beiseitegelegt. So lautet das Gesetz der Hohen und Strahlenden. Es gibt ein Gleichgewicht. Was geschrieben steht, mag zwar geschrieben stehen, doch wie ein Sonett oder ein Gemälde, wird alles vielleicht nur innerhalb eines Rahmens erschaffen.
Zeitaufwärts registrieren die Maschinen, durch die der König der Schmerzen die Welt regiert, die tödliche Verletzung des Mannes mit Vincent van Goghs Gesicht. Das Gleichgewicht ist gewahrt. Alles ist so geschehen, wie es geschehen sollte. In drei Tagen wird der Mann mit Vincent van Goghs Gesicht an einer Schußverletzung in der Brust in seinem Schlafzimmer über dem Café sterben. Die letzten Worte, die er seinem todgeweihten Bruder zuflüstert, werden lauten: »Das Elend wird niemals enden.« Dann wird sein Leib begraben werden. Und die Legenden werden sich um ihn ranken.
Anderswo lacht der König der Schmerzen. Er steht vor einer neuen Aufgabe. Ihre Größenordnung ist beängstigend, doch er ist zuversichtlich und enthusiastisch, ein starrsinniger, verstockter Holländer. Er will einige Änderungen vornehmen. Die Welt, so glaubt er, wird bald von ihm hören.
(Der Autor bedankt sich bei
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