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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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und wundersames Ding dabei herauskäme. Ein Mann wie Sie, Vincent.«
    Als er in den frühen Morgenstunden zum Haus Dr. Gachets zurückkehrt, hat Vincent das Empfinden, als wären die Straßen von Auvers dicht über seinem Kopf mit dem raschelnden, schlagenden Geräusch flatternder Schwingen erfüllt, die sich nicht zeigen und die man nicht sehen kann. In seinem Geist hat sich seit Tagen ein Bild festgesetzt, ein unaufgelöstes, undeutliches Bild; das Bild einer gewaltigen Finsternis, das sich über eine große, flache, gelbe Ebene hinabsenkt. Sonnenmetaphern rumpeln durch seinen Geist, doch das Bild läßt sich nicht packen. Wie ein Schmetterling flattert es durch seine Träume. Er geht jeden Tag hinaus, um das Bild zu verfolgen. Seine Unfähigkeit, es festzunageln, es in die gesunde, lebensfrohe Landschaft von Auvers zu integrieren, treibt ihn zuerst in die Irritation und dann in die Ablenkung. Das Bild verlangt eine geteilte gelbe Oberfläche und eine gewaltige Dunkelheit, die in kleine Stücke zerbricht und auf die weite Flur hinabschneit.
    Die Vögel sind wie ein Bestandteil der Finsternis. Sie füllen den Himmel mit ihren heiseren Schreien: große, schwarze Vögel, Raben. Sie verängstigen Vincent allmählich. Er kauft sich ein Gewehr, um sie abzuschießen, wenn sie wieder anfangen, ihn zu ängstigen. Er sagt Dr. Gachet nichts von der Waffe. Die Frustration läßt ihn kilometerweit über die Landstraßen laufen. Dann, an einem gewitterschwülen Julinachmittag, biegt er um eine Ecke, und dort treffen sich der Mensch und das Bild.
    Vor ihm liegt ein Kornfeld in hellgelber Reife, es ist goldgelb, sonnengelb, und wird zerteilt von einer roten Erdspur. Über dem Feld dräuen brodelnde schwarze Gewitterwolken, sie sind bedrohlich nah, doch merkwürdig unentschlossen.
    »Dies ist der Ort«, erklärt Vincent. Er stellt seinen Stuhl und seine Staffelei auf. Er bereitet Leinwand und Palette vor. Während er dies tut, versammeln sich die Raben, die von jenseits des Weltenrandes kommen. Vincent malt. Er malt den blauschwarzen Himmel. Er malt das gelbe Korn und den roten Weg. Doch er kann die Vögel nicht aus seinem Gemälde heraushalten. Sie flattern heran wie abgestorbene Blätter, wie bibelschwarze Priester.
    »Haut ab, verschwindet, laßt mich in Ruhe, ihr Aasfresser!« schreit er, schwenkt die Arme und scheucht die heiser schreienden Vögel auf. Doch vertreiben kann er sie nicht. Sie haben sich auf seine Hände gehockt, und aus seinen Händen sind Raben geworden, so daß er nicht anders kann, als sie in seinem Gemälde unterzubringen: Kornfelder und Raben.
    »Helft mir!« ruft er, als er sieht, wie der Wahnsinn sich seiner Verkleidung entledigt und seine wahre Gestalt annimmt. »Helft mir!« Doch er ist allein auf weiter Flur.
    Dann sieht er eine Gestalt, die über das Feld auf ihn zukommt, ein winziger Punkt, ein Mensch, der alle versammelten Vögel anzieht, so daß sie einen gewaltigen Strudel aus dunklen Flecken bilden und in den stürmischen Himmel hinaufsteigen. Noch bevor er so nahe herangekommen ist, daß man seine Züge erkennen kann, weiß Vincent, daß es der König der Schmerzen ist. Das ist der Vogel, für den er das Schießeisen hat. Vincent spannt den Hahn und legt die Waffe an einen Ort, den man nicht einsehen kann. Der König der Schmerzen kommt näher.
    »Hast du deine Kraft noch weiter verfeinert?« fragt Vincent furchtsam, doch gelassen. »Die Vögel … sie sind überzeugend, aber melodramatisch. Was hast du mit mir vor?«
    »Die Zeit zum Sterben eines jeden ist Sache des Königs der Schmerzen.« Der König hockt sich auf den Boden und zermalmt das Korn unter seinen Füßen.
    »Die Zeit zum Sterben?«
    »Deines Sterbens, Vincent. Ich habe dein Leben von Anfang bis zum Ende in den Erinnerungen der Maschinen gesehen, und dies ist der Ort, an dem ich es enden sehe. Mein Hiersein kann es nicht ändern; was geschrieben steht, steht geschrieben, also bin ich gekommen, um dir mein innigstes Lebewohl zu sagen.«
    »Aber was ist mit dem Ruhm, he? Dem Ruhm, dem Vermögen, den Gemälden, die so lange leben werden, wie es Schönheit in der Welt gibt? Den Versprechungen?«
    »Posthum, Vincent. Nach deinem Tod.«
    Im Kornfeld unter dem Rand des Sturmes bricht Schweigen aus. Dann sagt Vincent sehr, sehr langsam, mit voller Absicht und äußerst demütig: »Kannst du dir vorstellen, wie sehr ich dich verabscheue? Deine Selbstgefälligkeit, deine Arroganz, deine Gefühllosigkeit, deine verräterische

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