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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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wieder verlassen zu können. Er war froh, der Stadt den Rücken zu kehren.
    Und jetzt belebt ihn die strenge Landschaft des Nordens. Die Berge sind so weit wie das Meer, die Felder gewaltig und mit fruchtbarer Potenz geladen, der Himmel ist hoch, nah, gegenwärtig. Es ist eine gesunde, starke Landschaft, in der ein Mensch möglicherweise seine wahren Dimensionen erkennen kann. Zum ersten Mal seit über einem Jahr wagt Vincent zu glauben, daß er vom Wahnsinn frei ist. Es ist, als würden grüne Heilströmungen über die Berge und Felder in ihn hineinfließen und ein Ganzes, etwas Gesundes, aus ihm machen.
    Theo hat ihn der Obhut Dr. Gachets anempfohlen, eines liebenswürdigen Exzentrikers, der, wie Vincent bald erfährt, in ihm einen Verfechter seiner eigenen kleinen Verrücktheiten zu finden glaubt. Dr. Gachet führt Vincent in seine Leidenschaft des Radierens ein. Vincent hingegen malt Porträts des Arztes und seiner gesamten Familie. Dr. Gachet studiert sein Porträt. Er blickt lange auf die melancholische, müde Gestalt, die auf einem Tisch aufgestellt ist, eine Gestalt, deren Augen einen sehr, sehr müden Blick aufweisen.
    »Vincent«, sagt er, »es ist wunderschön, es ist gewaltig, aber – trotz all meiner kleinen Verrücktheiten – stellt es nicht mich dar. Du bist es.«
    Und dann wird sich Vincent wieder der Vögel bewußt, der schwarzen Vögel des Wahnsinns, die ganz Frankreich nach ihm abgesucht haben, die ihn jetzt umkreisen, hoch hoch hoch, zu hoch, daß man sie sehen könnte, doch nie so hoch, daß er nicht wüßte, daß sie da sind.
    Im Juli besucht Theo seinen geliebten Bruder. Sie fahren in einem Boot über den Fluß, sie gehen spazieren, sie reden, sie essen und trinken, doch Vincent weiß, daß sein Bruder bekümmert ist.
    »Vincent, ich weiß nicht, wie lange ich dich noch unterstützen kann. Meine finanziellen Mittel sind nicht unerschöpflich, und momentan geht es mir nicht sehr gut. Du weißt, wie knapp mein Gehalt bemessen ist, aber dennoch mißgönne ich dir nichts. Du weißt, daß ich dich immer geliebt und unterstützt habe, und ich werde dich auch weiterhin lieben. Ich hatte gehofft, dein erster Verkauf würde zu weiteren führen, daß du vielleicht finanziell unabhängig würdest, doch Vincent, es ist nicht so! Es ist nichts mehr verkauft worden. Wenn es doch nicht nur um das Geld ginge.«
    »Ich verstehe dich, Theo.« Vincent streckt den Arm aus, um die Hand seines Bruders zu berühren. Er fröstelt. Theo bemerkt es. Er ist überrascht. Vincent entschuldigt sich: »Der Wind«, sagt er, doch es ist nicht der Wind vom fernen Ozean, der ihn hat frösteln lassen, sondern der Wind, der an der Küste des Meeres der Ewigkeit weht.
    Über ihm ziehen die schwarzen Schmerzvögel immer engere Kreise, sie folgen seiner Spur.
    Ein Abend mit Dr. Gachet in dem Café, in dem Vincent lebt, bringt gewiß äußerst seltsame Gesprächsthemen hervor. Die Theorie und der Zweck der Kunst, potentielle Pantheons neuer Götter für ein neues Jahrhundert, die Unentrinnbarkeit des Schmerzes und Leidens als menschliches Schicksal, die Unausweichlichkeit des Todes: Solche Gespräche und viel Absinth bringen Vincent dazu, sich halluzinatorischer Audienzen beim König der Schmerzen zu erinnern.
    Dr. Gachet hört zu, verwundert, skeptisch, erschreckt, nachdenklich. Als Vincent fertig ist, sagt er: »Ein schöpferischer Gedanke; was würde man tun, wenn einem die Macht und die Verpflichtung über den gesamten Schmerz der Menschheit gegeben würde. In einem bin ich mir sicher: Der Mann, den Sie beschreiben, ist nicht geeignet, Gott zu werden. Weil er nicht leiden kann. Und weil er nie gelitten hat, weiß er nichts über den Schmerz, den er beherrscht. Kein Gott darf so tun, als könne er die Menschheit beurteilen, wenn er nicht ebensoviel gelitten hat wie sie, aber dieser Jean-Michel Rey soll Gewissen, Richter, Henker und Gott sein? Er ist nicht dazu geeignet. Sagen Sie ihm das, wenn Sie ihn noch einmal treffen! Sagen Sie ihm, daß ich hundert bessere Könige der Schmerzen wüßte!«
    »Vielleicht Sie selbst? Der gütige Dr. Gachet?«
    »Gott behüte. Ich würde es nicht wagen. Diese Macht wäre zu verführerisch, als daß ich sie in meinen exzentrischen Händen halten könnte. Nein, der König der Schmerzen muß jemand sein, der Freude und Schmerz, Tränen und Gelächter, Erfolg und Mißerfolg, Gesundheit und Wahnsinn kennt. Wer weiß schon, was es wirklich bedeutet, menschlich zu sein. Wer weiß, welch schreckliches

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