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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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mich zu. Ich konnte sie ganz deutlich sehen. Lange schwarze Haare. Ich duckte mich, so weit es ging. Sie ballerten los, während mein gottverdammter Karabiner klemmte, Ladehemmung, also zog ich das Magazin heraus und versuchte, ein anderes hineinzuschieben, aber da entdeckten sie mich und richteten ihre Ak-47er auf mich. O Gott, ich erinnere mich, wie alles vor meinen Augen verschwamm … Ich betrachtete diese Dinger, siebenkommazweiundsechzig Millimeter Sturmgewehre waren das – eine Sekunde lang setzte mein Verstand vollkommen aus, ich strengte mein Gehirn furchtbar an, um mir darüber klar zu werden, ob das russische Fabrikate waren, oder chinesische oder tschechische oder nordkoreanische. Es war so hell von den vielen Leuchtraketen ringsum, daß ich genau sehen konnte, wie sie mich langsam in die Enge trieben, und da schoß plötzlich wie aus dem Nichts einer unserer Gefreiten hervor, stürzte sich auf sie und brüllte irgend etwas wie ›He, ihr Vietcong-Scheißer, seht mal her!‹ –, obwohl es nicht genau das war, mir ist nie wieder eingefallen, was er wirklich gebrüllt hat … und sie drehten sich um, zielten auf ihn … sie durchlöcherten ihn wie einen Sack voll Blut … und er fiel direkt auf mich und in die Büsche, und, o Gott, Teile von ihm schwammen in dem Wasser, in dem ich stand …«
    Billy atmete schwer unter einer unerträglichen Last. Seine Hände bewegten sich in der Luft vor seinem Gesicht, ohne Sinn und Bedeutung. Er starrte unverwandt in irgendwelche entfernte Ecken des vom Dämmerlicht durchfluteten Raums, als ob dort bestimmte Dinge auftauchen müßten, die eine vernünftige Begründung für das wären, was er gesagt hatte.
    »O mein Gott, er schwamm im Wasser … Maria und Josef, er drang mir in die Stiefel!« Dann ein Klageschrei so laut, daß er den Verkehrslärm vor den Fenstern des Apartments übertönte, und er begann zu wimmern; er weinte nicht, doch das Wimmern hielt an; und Caspar kam von seinem Sofa herüber und hielt ihn fest und sagte Worte wie ›Ist ja gut‹, aber vielleicht waren es auch nicht genau diese Worte, jedenfalls irgendwelche Worte.
    Während er sich an die Schulter des alten Mannes drückte, fuhr Billy Kinetta fort, ohne ganz bei Sinnen zu sein: »Er war nicht mein Freund. Ich habe ihn gar nicht gekannt, habe kein einziges Wort mit ihm gewechselt, aber ich habe ihn gesehen, er war einfach da, dieser Mann; für ihn gab es keinen Grund, so etwas für mich zu tun, er wußte ja gar nicht, ob ich ein guter Mensch war oder ein Scheißkerl, warum hat er es also getan? Sie hätten ihn nicht bemerkt. Als er tot war, konnte ich die anderen beiden töten. Da war er schon weg. Ich konnte ihm nicht einmal danke sagen, danke oder … irgend etwas.
    Jetzt ist das sein Grab dort auf dem Friedhof, deshalb bin ich hierher gezogen, damit ich zu ihm hingehen kann, und ich versuche und versuche immer wieder, ihm zu danken, aber er ist tot und kann mich nicht hören, er kann überhaupt nichts mehr hören. Er liegt einfach da unten, unten in der Erde, und ich kann ihm nicht danken … o mein Gott, warum kann er mich denn nicht hören, ich möchte ihm nur danke sagen.«
    Billy wollte die Verantwortung übernehmen, danke zu sagen, aber er bekam diese Möglichkeit nur in einer einzigen Nacht, die niemals wiederkehren würde; der Tag war gekommen.
    Caspar führte ihn ins Schlafzimmer, legte ihn ins Bett und streichelte ihn in den Schlaf, genauso, wie man es mit einem alten, kranken Hund macht.
    Dann ging er zurück zu seinem Sofa, und da ihm nichts Besseres einfiel zu sagen, murmelte er: »Er wird sich erholen, Minna. Bestimmt.«
     
    Als Billy sich am nächsten Abend zum Seven-Eleven auf den Weg machte, war Caspar ausgegangen. Es war ein ›zweiter‹ Tag, und das bedeutete, daß er auf dem Friedhof war. Billy hatte zwar Bedenken, daß er immer allein dorthin ging, aber der alte Mann konnte eigentlich ganz gut auf sich selbst aufpassen. Billy war sehr ernst bei dem Gedanken an seinen Freund, und das Wort Freund hallte in seinem Sinn wider, als ihm klar wurde, daß er wirklich ein Freund war, sein wahrhaftiger, wirklicher Freund. Er fragte sich, wie alt Caspar wohl sein mochte und wie bald Billy Kinetta wohl wieder sein würde, was er immer gewesen war: allein.
    Als er um halb drei in der Nacht in das Apartment zurückkam, schlief Caspar, eingerollt in seiner Decke auf dem Sofa. Billy ging ins Bett und versuchte zu schlafen, aber nach einigen Stunden, als er immer noch nicht schlafen

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