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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Billy. Ich wußte, daß du ein guter Junge bist. Also gut, wenn du dich an all das erinnerst, darf ich dir dann eine Geschichte erzählen? Es ist keine sehr lange Geschichte.«
    Billy nickte und lächelte seinen Freund an.
    »Im Jahre 1582 bestimmte Papst Gregor XIII. per Dekret, daß sich die zivilisierte Welt nicht mehr nach der Julianischen Zeitrechnung zu richten habe. Auf den vierten Oktober 1582 folgte am nächsten Tag der fünfzehnte. Elf Tage verschwanden aus der Welt. Hundertundsiebzig Jahre später schloß sich das britische Parlament dieser Entscheidung an, und dem zweiten September 1752 folgte am nächsten Tag der vierzehnte September. Warum hat er das gemacht, der Papst?«
    Billy verwirrte diese Unterhaltung etwas. »Weil er die Zeit mit der wirklichen Welt in Einklang bringen wollte. Die Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen. Die Zeit der Saat und der Ernte.«
    Caspar fuchtelte vor Begeisterung mit dem Finger vor ihm herum. »Hervorragend, junger Freund. Und du hast durchaus recht, wenn du sagst, daß Gregor den Julianischen Kalender verwarf, weil er eine Unstimmigkeit von einem Tag in hundertundachtundzwanzig Jahren enthielt, was die Frühlingstagundnachtgleiche auf den elften März verschoben hatte. So steht es in den Geschichtsbüchern. Alle Geschichtsbücher behaupten das. Aber was wäre, wenn …?«
    »Was, wenn? Ich weiß nicht, wovon du redest.«
    »Was wäre, wenn es wie eine Offenbarung über Papst Gregor gekommen wäre, daß er die Zeit im Bewußtsein der Menschen neu ordnen mußte? Was wäre, wenn der Zeitsprung im Jahre 1582 elf Tage und eine Stunde betragen hätte? Was wäre, wenn er mit diesen elf Tagen gerechnet, diese elf Tage ausgelöscht hätte, jene eine Stunde aber durchgeschlüpft wäre? Freigekommen, um durch die Ewigkeit zu treiben. Eine ganz besondere Stunde, eine Stunde, die niemals genutzt werden darf … eine Stunde, die niemals schlagen darf. Was wäre wenn?«
    Billy spreizte die Hände. »Was wäre wenn, was wäre wenn, was wäre wenn! Das ist nichts als Philosophie! Es bringt nichts. Die Stunden sind nichts Faßbares, Zeit ist nichts, das man in Flaschen aufbewahren kann. Also, was wäre, wenn da tatsächlich irgendwo eine Stunde herumschwebte …«
    Und er hielt inne.
    Seine Züge spannten sich, und er beugte sich zu dem alten Mann hinunter.
    »Die Uhr. Deine Uhr. Sie funktioniert nicht. Sie ist stehengeblieben.«
    Caspar nickte. »Um elf Uhr. Aber meine Uhr funktioniert. Sie geht sehr genau, sie zeigt eine ganz besondere Stunde.«
    Billy legte Caspar die Hand auf die Schulter. Vorsichtig fragte er: »Wer bist du, Alter?«
    Der alte Mann lächelte nicht, als er sagte: »Caspar. Der Bewahrer. Paladin. Der Wächter.«
    »Vater Perrault war Hunderte von Jahren alt.«
    Caspar schüttelte den Kopf mit einem wehmütigen Ausdruck in dem alten Gesicht. »Ich bin sechsundachtzig Jahre alt, Billy. Du hast mich gefragt, ob ich mich etwa für Gott halte. Weder für Gott, noch für Vater Perrault, auch nicht für unsterblich, nur für einen alten Mann, der allzubald sterben muß. Bist du Ronald Colman?«
    Billy zupfte nervös an seiner Unterlippe. Er sah Caspar so lange an, wie er konnte, dann wandte er sich ab. Er entfernte sich ein paar Schritte und starrte die kahlen Bäume an. Plötzlich kam es ihm viel eisiger vor hier an diesem Ort der begrabenen Erinnerungen. Aus einiger Entfernung sagte er: »Aber es ist doch nur … was? Eine Anpassung der Zeitmessung. Wie die Umstellung der Uhren auf die Sommerzeit. Im Frühling vor, im Herbst zurück. Wir verlieren doch nicht wirklich eine Stunde, wir bekommen sie doch zurück.«
    Caspar blickte auf Minnas Grab. »Ich habe eine Stunde verloren, wenn ich jetzt sterbe. Mir fehlt eine Stunde am Leben. Man hat mich um eine Stunde, an der mir sehr viel gelegen wäre, betrogen, Billy.« Er taumelte auf das zu, was ihm von Minna geblieben war. »Eine letzte Stunde, die ich mit meinem alten Mädchen verbringen könnte. Davor habe ich Angst, Billy. Ich besitze diese Stunde. Ich habe Angst, schwach zu werden und diese Stunde zu nutzen. Gott möge mir helfen. Ich möchte sie so gerne nutzen.«
    Billy ging wieder nahe zu ihm heran. Angespannt und fröstelnd fragte er: »Und warum darf diese Stunde niemals schlagen?«
    Caspar holte tief Luft und wandte mühsam den Blick ab von dem Grab. Er heftete seine Augen fest auf Billy. Und er sagte es ihm.
    »Die Jahre, die Tage und die Stunden, sie existieren wirklich. So faßbar und real wie die Berge und die

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