Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
Meere und die Männer und die Frauen und die Affenbrotbäume. Schau dir nur mal«, sagte er, »die Linien in meinem Gesicht an, und behaupte dann, die Zeit sei nicht real. Betrachte dieses abgestorbene Unkraut hier, das einmal lebendig war, und versuche zu glauben, daß das alles nur Schall und Rauch ist oder ein Übereinkommen zwischen Päpsten, Cäsaren und jungen Männern wie dir.
    Die verlorene Stunde darf niemals kommen, Billy, denn in dieser Stunde wird alles zu Ende gehen. Das Licht, der Wind, die Sterne, dieser ganze großartige freie Raum, den wir das Universum nennen. Alles wird aufhören zu sein, und statt dessen – sie liegt ständig auf der Lauer – wird ewige Dunkelheit herrschen. Es wird keinen neuen Anfang geben, keine neue Welt ohne Ende, sondern nichts als unendliche Leere.«
    Und er öffnete die Hand, die er in den Schoß gelegt hatte, und da lag eingebettet die Uhr, die keinen Laut von sich gab, nicht den geringsten, schlagartig stehengeblieben auf elf Uhr. »Sollte sie eines Tages wirklich zwölf anzeigen, Billy, bricht die ewige Nacht herein, aus der es kein Erwecken geben wird.«
    So saß er da, der sehr alte Mann, ein vollkommen normaler alter Mann. Der jüngste in der endlosen Kette der Wächter der verlorenen Stunde. Nachfahre und Amtserbe eines Cäsaren und Papst Gregors XIII., von Männern und Frauen, die durch die Jahrhunderte diesen außergewöhnlichen Chronometer bewahrt hatten. Und jetzt starb er, und jetzt klammerte er sich ans Leben, wie trostlos, schmerzhaft und leer es auch gewesen sein mochte, und wenn es nur für eine Stunde war. Wie sich jeder Mann und jede Frau ans Leben klammert. Der Selbstmörder, der sich von der Brücke stürzt, versucht im letzten Augenblick zu fliegen, auf einer Himmelsleiter umzukehren. Dieser erschöpfte alte Mann, der nur noch eine kurze Stunde mit Minna verbringen wollte. Der Angst hatte, daß seine Liebe den Preis des Universums forderte.

    Er sah Billy an, und er streckte die Hand mit der Uhr aus, die auf ihren neuen Beschützer wartete. So leise, daß ihn Billy kaum hören konnte, wohl wissend, daß er sich damit das versagte, wonach er sich an diesem letzten Ort seines Lebens am meisten sehnte, flüsterte er: »Wenn ich sterbe, ohne sie weitergegeben zu haben … wird sie anfangen zu ticken.«
    »Nicht an mich«, wehrte Billy ab. »Warum hast du ausgerechnet mich ausgesucht? Ich bin nichts Besonderes. Ich bin nicht so wie du. Ich bin Geschäftsführer des Nachtbetriebs in einem Supermarkt. An mir ist nichts Besonderes, so wie es bei dir der Fall ist. Ich bin nicht Ronald Colman. Ich möchte nicht verantwortlich sein. Ich war noch nie verantwortlich.«
    Caspar lächelte zärtlich. »Du warst für mich verantwortlich.«
    Billys Wut verflog. Er sah getroffen aus.
    »Sieh uns beide doch an, Billy! Sieh doch, welche Hautfarbe du hast, und sieh, welche Hautfarbe ich habe. Du hast mich als Freund bei dir aufgenommen. Ich halte dich des Amtes für würdig, Billy. Ja, für würdig.«
    So verharrten sie an der Stelle, schweigend, während der Wind auffrischte. Und schließlich, nach einer nicht gemessenen Zeit, nickte Billy.
    Da sagte der junge Mann: »Du wirst Minna nicht verlieren, Alter. Du gehst jetzt an den Ort, wo sie auf dich wartet, genau wie sie auf dich gewartet hatte, als du ihr zum ersten Mal begegnetest. Es gibt einen Ort, wo wir alle das wiederfinden, was wir im Laufe der Zeit verloren haben.«
    »Das ist gut, Billy, daß du mir das sagst. Ich würde es gerne glauben. Aber ich bin Pragmatiker. Ich glaube nur an das, was wirklich existiert … wie der Regen und Minnas Grab und die Stunden, die vergehen, die wir zwar nicht sehen können, die aber sind. Ich habe Angst, Billy. Ich habe Angst, daß dies das letzte Mal ist, daß ich zu ihr sprechen kann. Deshalb bitte ich dich um eine Gunst. Als Lohn dafür, daß ich mein Leben lang die Uhr gehütet habe.
    Ich bitte um eine Minute der Stunde, Billy. Eine Minute, um sie zurückzurufen, damit wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen können und ich sie berühren und ihr auf Wiedersehen sagen kann. Du wirst der neue Hüter dieser Uhr sein, Billy, deshalb bitte ich dich, laß mich eine Minute abzwacken.«
    Billy lächelte und nickte. »Das bißchen Zeit können wir entbehren.«
    Caspar streckte die freie Hand aus und ergriff Billys. Es war eine gefühlvolle Berührung. »Das war die letzte Probe, mein junger Freund. Oh, natürlich hast du gewußt, daß ich dich nur auf die Probe stellen

Weitere Kostenlose Bücher