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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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wollte.
    »Spiritual-Massage, das ist das richtige für dich, Papa, wenn du nur nicht so stur wärst! Ist doch kein Zustand, immer bei geschlossenem Fenster …«
    Berger fluchte weiter. Er schaute sie nicht an. Drehte sich im Bett um und versuchte zu furzen.
    »Ich bin ein alter Mann«, sagte er, »und ich muß das tun. Wenn ich es unterdrücke, hab’ ich den ganzen Tag Blähungen.«
    Seine Tochter seufzte und riß das Fenster auf. »Kein Mensch hat heute noch ›Blähungen‹. Was ist das überhaupt für ein Wort …« Aber sie sagte es nur zu sich selbst; so leise, daß er sie nicht verstehen konnte. Ihr Vater hatte eine Vorliebe für ungesunde Lebensweise und altmodische Wörter. Er pflegte diese Marotten, alle beide, davon war sie fest überzeugt, nur um die Familie zu tyrannisieren. Wenn er einen schweren körperlichen oder geistigen Schaden gehabt hätte, dann wäre unter Umständen – ganz bestimmten Umständen – wohl das Asyl eine Lösung … aber immer, wenn ihr der Gedanke kam, scheuchte sie ihn fort und rief sich zur Ordnung. Sie war eine praktische Frau. Irgendwelchen Phantasien nachzuhängen, führte zu nichts oder zu etwas Unangenehmem. Dr. Niederer sagte, da sei nichts zu machen. Leider, dachte sie und damit punktum. ›Punktum‹ war auch so ein Wort, das kein Mensch mehr kannte. Sie hatte es von ihrem Vater und manchmal fiel ihr auf, daß seine alten Wörter über ihre Lippen kamen. Es gab Situationen, da schämte sie sich dafür. Zum Beispiel, wenn Dr. Niederer da war oder Jimmy. Dr. Niederer blickte sie verwirrt an, wenn sie solche Sachen sagte wie: »Er hatte gestern wieder den ganzen Tag Blähungen.« Und dann schaute er schnell weg und begann, kühl und fachlich zu reden. Vielleicht überlegte er, wer eigentlich in dieser Familie verrückt war, der Vater oder die Tochter.
    »Ich glaube, diese … äh … Beschwerden können in dem gegenwärtigen psychosozialen Umfeld Ihres Vaters gar nicht von Dauer sein«, sagte er dann. »Glücklicherweise, möchte ich betonen. Ich meine, da kenn’ ich ganz andere Fälle, wo es nicht so rosig aussieht.«
    Sie zuckte zusammen, wenn er so mit ihr sprach. Was mochten das für andere Fälle sein? Was mußte da los sein, wenn ihr Vater zu den Bagatellen gerechnet wurde?
     
    »Mach endlich das Fenster zu!« Berger hatte die Decke bis ans Kinn gezogen. »Ich denke immer, wir sollen Energie sparen, oder was?« Sie gab es auf und schloß das Fenster. Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Wenn sein Tag schon so anfing, war er schlechter Laune und würde es bleiben.
    »Fünf Minuten, Papa«, sagte sie gleichmütig, »dann mußt du. Ich mach’ inzwischen Kaffee.« Er zog die Decke bis über die Stirn und antwortete nichts. Sie ging hinaus. Jeden Morgen das gleiche, fast jeden. Sie hatte Angst, später genauso zu werden wie er. Sie war 30 Jahre jünger und fürchtete sich. Lag auch am ›psycho-sozialen Umfeld‹. Sie wußte, was wirklich hinter all diesen schönen scientifischen Bezeichnungen steckte.
    Dr. Niederer wußte es auch. Und er wußte, daß sie es wußte. Ihr Mann war Sprachdozent und deshalb war das psychosoziale Umfeld so günstig. Es konnte gar nicht anders sein. Bei allen Tätigen war das so. Bei den aktiv Tätigen. Alle glaubten es. Manchmal fragte sie sich, ob es wirklich alle glaubten. Oder nur so taten, als ob. »Der aktiv Tätige schafft das spirituelle Klima in seiner Nische des Gesamtorganismus, in dem passiv Tätige leben und gedeihen können.« So hieß es. Als sie im Grundkurs vor vielen Jahren Neubert gefragt hatte, worauf das ›in dem‹ sich denn beziehe, auf das ›Klima‹ oder den ›Organismus‹, hatte er geantwortet, da könne mensch eben sehen, wie flexibel Sprache doch sei. Trotz der und gerade durch die neuerdings so verteufelten Relativsatzstrukturen.
    »Auf beides bezieht es sich, meine Liebe«, sagte er, »auf beides zugleich, verstehen Sie? Die innere Verbundenheit von Mikro- und Makroorganismus kommt dadurch präzise zum Ausdruck; und eben auch, daß diese Begriffe bloße Scheinwörter sind, Reste einer überholten, linearen Denkweise.« Sie lächelte, als sie daran zurückdachte. Es war lange her, sehr lange. Sie war, wie man sagte, ›an seinen Lippen gehangen‹.
    Heute würde so eine Formulierung irritiertes Stirnrunzeln und Brauenhochziehen hervorrufen. Neubert war schlau; auf die alte Art. Er galt als Gegner der Plansprachen, wußte aber immer seine Begeisterung für überholte Konstruktionen mit der Begeisterung

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