Wassermans Roboter
nicht verschleiert hätte, dann hätten sie ihm nicht den hohen Soz-Level zugestanden. Die Frau glaubte, daß sie alle in diesen Analysegruppen betrogen – so einen wie den Dozenten brauchten sie wegen seiner didaktischen Begabung und seiner Fähigkeit, Sprachen zu lernen und zu entwickeln. Da drückten sie ein Auge zu und ließen auch einen aufsteigen, dessen ›innere Reife‹ nicht so 100%ig war. Wenn jetzt der Dozent tatsächlich zur Tür hereinkäme, weil er vielleicht etwas vergessen hat, dann … sie schauderte bei dem Gedanken. Jimmy öffnete ihre Bluse und streichelte ihre Brüste. Es würde eine Szene geben, eine richtige Szene. Sie stellte sich das oft vor, wenn Jimmy kam. Es machte sie an, zusätzlich. Ein unendlich kostbares Gefühl, eine Ahnung von Ernst und Gefahr. Sie riß ihn an sich und wollte nicht warten. Sie wollte, daß es hier geschehe, gleich hier und jetzt, in der Küche. Ihr Mund war ganz trocken.
»Komm«, sagte sie, »ich hab’ Lust. Mach zu!«
Es war draußen doch nicht so kalt, wie er befürchtet hatte. Der Schmerz im Knie erträglich. Berger kam gut voran. Vom ganzen Vormittag genoß er nur diesen Weg zum Kurs. Ein schönes Viertel. Neue und immer neue Lichtreflexe an den verglasten Fassaden. Hoher Solaranteil in der Siedlung. Hoher Solaranteil und hoher Soz-Level gehen immer zusammen. Ganz richtig so, fand Berger. Eines der wenigen Soz-Facts, denen er zustimmte.
Er ging langsam, ohne Hektik. Schnelle Bewegungen fand er lächerlich in seinem Alter. Er war 69. Er dachte, es sei richtig, das weder zu verschleiern noch zu beschönigen. Viele seiner Altersgenossen machten alle möglichen und unmöglichen Fitneß-Programme, Waldläufe, Wasserkuren und all dieses Zeug. Kellner war so einer. Der trug helle Hemden und kurze Hosen und hatte einen Gang, den er selbst wohl für ›federnd‹ hielt. Wie eine Trickfigur aus der Werbung. Aber keiner lachte darüber. Nur Berger. Er mochte Kellner irgendwie, konnte es aber einfach nicht verwinden, ihm seine Meinung zu sagen. »Was hast du davon«, fragte er oft, »so rumzurennen? Du bist zweiundsiebzig, Mann!« Kellner war deswegen nicht böse. Ein sanfter Mensch. »Jeder nach seiner Fasson«, sagte er nur. Das war sein Lieblingsspruch. Jeder nach seiner Fasson. Wenn es bloß so einfach wäre.
Berger seufzte und schritt schneller aus. Die Frau hatte recht. Er würde zu spät kommen und eine Auseinandersetzung mit Schmarr riskieren. Er fürchtete sich nicht vor Schmarr; wirklich nicht. Er war nur müde. Er hatte viele Lehrer gehabt in vierzig Jahren, ganz andere Kaliber als diesen Schmarr. Wie ein Mensch bloß so heißen konnte!
Liebherr zum Beispiel klang viel besser. Das war ein Teacher. Der machte die Leute fertig nach Strich und Faden.
»Wer nicht lernt, soll auch nicht essen!« Ein Skandal war es, sogar für die Umbauphase. Das hätte er niemals sagen dürfen. Obwohl – es stimmte natürlich. Alles, was geschah, ließ sich auf diesen Satz reduzieren. »Ich mach’ Sie fertig, Berger, verlassen Sie sich drauf. Sie werden rückgestuft, was sag’ ich, als nicht bildungsfähig eingestuft. Und Sie wissen ja, was das bedeutet.« Berger erinnerte sich noch gut an diesen Auftritt. Das hatte ihm die Freude an den Kursen verdorben, für immer. Nicht bildungsfähig. Berger wußte nicht, was das konkret bedeutete. Niemand wußte es. Die nicht Bildungsfähigen verschwanden einfach. Neue Persönlichkeit, hieß es. Neuroschock. Alles Gerüchte. Nie etwas Konkretes. Widerlich.
Berger ging langsamer. Schmarr konnte ihn kreuzweise. Und das würde er ihm auch sagen; bei Gelegenheit. Es war sowieso egal. Er hatte es einfach satt, satt, satt. Satt bis obenhin! Seine Gedanken kehrten zu Liebherr zurück. Liebherr war nachher versetzt worden. Zu ›wenig angepaßt‹. Aber Liebherr war auch sicherer Boden. Wenn er an ihn dachte und an den Kurs damals, mußte er nicht an Martha denken. Und wenn er nicht an sie denken mußte, war alles gut.
35 war er gewesen. 35 schien ihm heute eine magische Zahl. Er war jung, sportlich, ›aufstrebend‹. Ein exzellenter Verkäufer intelligenter Software. Hoher Soz-Level; mehrere Male höher als heute. Er wußte, daß er nicht bis sechzig den Leuten Heimsysteme verkaufen konnte bei Network Inc. Wer wollte das schon! Er hatte sich gefreut auf den ›anderen Status‹. Passiv Tätiger. Die ideale Kombination. Passiv und doch tätig. Vereinigung der Widersprüche. Ökophil eben. Und dann war er in den Kurs gegangen und hatte
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