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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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für das große Sprachprojekt zu tarnen.
    »Verstehen Sie? Noch vor 100 – was sage ich! – vor 30 Jahren hätte man diesen Satz in jedem Text als dicken Fehler angestrichen, ja – gebrandmarkt! Heute ist er richtig, nein, nicht richtig, Verzeihung – fit ist er. Fit müssen wir sagen.« Sie erschauerte bei dem Wort ›gebrandmarkt‹, weil sie nicht wußte, was es bedeutete.
    Sie wußte auch nicht; was ›Fehler anstreichen‹ heißen sollte. Neubert nahm immer so alte Begriffe und verbesserte sich dann. Alle waren überzeugt, er tat es absichtlich. Die Jungen waren der Ansicht, es stecke ein geheimer Sinn darin; eigentliches Ziel des Kurses sei es, Neuberts Absichten aufzudecken – das bringe die Punkte. Sie veranstalteten Per-Workshops und M-Kurse deswegen. Die Mädchen schwärmten für Neubert – alle. Roter Vollbart und eine Glatze, die echt aussah, nicht wie ein Transplantat. »Sie ist echt«, hatte er gesagt, ganz leise und dann …
    »Er macht es dir unwahrscheinlich gut«, prophezeite Maria, »besser als jeder andere! Er ist, er ist … wie soll ich sagen … er ist – brutal, verstehst du?« Beim ›brutal‹ hatte sie ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern verändert. Rot geworden war sie dabei. Untypisch für Maria. Also mußte wohl etwas dran sein. Und es war etwas dran.
     
    Berger schlurfte die Stufen herab, sagte ›Guten Morgen‹, als ob er sie nicht soeben angeschrien hätte und setzte sich an den Tisch. Im Wohnraum war es hell und freundlich, trotz des trüben Wetters. Die Sonne schien, dabei gab es draußen gar keine Sonne. Den Effekt verdankten sie Berger und vergaßen es natürlich. Undankbare Brut. Es war seine Idee gewesen, bei der Erneuerung des Glashauses gelb getönte Scheiben einzusetzen. Der Tisch wenigstens schon gedeckt. Mußte man anerkennen. Durchaus. Jeden Morgen fürchtete er, sich das Frühstück selber machen zu müssen. Er haßte Betätigung um diese Zeit. Der Sprachkurs war ihm Betätigung genug. Den haßte er auch. Genug Haß für den Beginn des Tages.
     
    Weißbrot und Honig. Und Kaffee. Seit 40 Jahren. »Ich bin es so gewohnt«, pflegte er zu sagen. »Keine Debatten!« Sie beobachtete ihn beim Essen. Es störte ihn nicht, er schien es zu erwarten und zu genießen. Sie saß ihm gegenüber, an dem Platz, wo seine Frau gesessen war. Alles wie immer. Es war irgendwie unwirklich. Manchmal spürte sie eine Verbundenheit mit diesem alten Mann, eine Vertrautheit, die aus Gewöhnung entsteht und vielen Tagen mit gleichem Ablauf. Ihre Mutter war fort, und nun saß sie an ihrem Platz und umsorgte ihn. Er verschmierte den Honig über die Tischplatte. Sie würde wieder aufwischen müssen.
    »Honig hat die Eigenart, sich über die ganze Wohnung zu verteilen, sobald das Glas offen ist«, sagte er, »da kann man nichts dagegen machen.« Es war natürlich einfach so, daß er nichts dagegen machen wollte.
    »Beeil dich«, sagte sie, »du kommst wieder zu spät!«
    »Ja, ja.«
    »Du weißt, was Schmarr gesagt hat. Du stehst schlecht und erreichst den Abschluß nicht. Und Zuspätkommen reizt ihn …«
    »Schmarr, Schmarr! Schmarr ist ein Schnösel, halb so alt wie ich.«
    Er nahm einen tiefen, schlürfenden Schluck und biß in sein Brot.
    »Schmarr kann mich am Arsch lecken.«
    »Aber Papa, das hat doch keine Bedeutung, wie alt er ist! Ich frag’ mich oft, was du für Vorstellungen hast. ›Halb so alt wie ich!‹ Du meine Güte!«
    Sie war zornig, mit einem Mal, und er merkte es. Es tat ihm wohl.
    »Du bist wie Martha, weißt du das?« Er lächelte auf sein angebissenes Honigbrot hinunter. Sie dachte: Vielleicht sieht er sie dort. Bestimmt sieht er sie dort. In dem Honigbrot. Lächerlich. Seine Augen glitzerten feucht. Und sie dachte: Er ist debil, alt und debil. Martha war ihre Mutter, gut, und sie hatte geweint, viel und aufrichtig geweint bei ihrem Tod. Zuerst konnte sie nicht weinen, nicht trauern, gar nichts. Aber da gab es noch die Gruppe. Und dann in der Gruppe, schon nach dem ersten Wochenende konnte sie weinen. Eine sehr gute Gruppe.
    Annehmen lernen, hieß es, akzeptieren. Und sie mußten sogar CY-40 einsetzen. »Das neueste Design«, sagte Lerner, »von Spiri-Labs. Ein Wundermittel. Mensch sagt, es übertrifft Thanatophil in der Wirkung um das Fünffache!« Lerner war Ethiker in ihrer Koop. Ein guter Ethiker. Und dann Neuro-Interface-Technik. 25 Sitzungen. Lerner schlug es vor, als es mit dem CY-40 nicht richtig lief. Vor der Gruppe. ›Annehmen lernen!‹ Ihr

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